Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 275

Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens I. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 275

Text

ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.
Von CAMILLE MAUCLAIR (Marseille).
I.

Vor ungefähr zwei Jahren hat Paris
die Wiederaufnahme der »Vie de Bohème«
von Murger und die Première der »Bohème«
von Puccini erlebt; einige Zeit später
gieng Leoncavallos Stück über die Bretter.
In dreifacher Behandlung also wurde uns
das Leben armer Künstler zur Schau ge-
stellt. Die Erinnerung an Paul Verlaine,
der von Spital zu Spital zog und seine
sokratische Maske, sein jammervolles Äußere
in den Straßen spazieren führte, Verlaine
hat die Gemüther der Pariser Bourgeois
weit weniger beunruhigt, als die Schicksale
Schaunards oder Collines, obzwar Verlaine
weitaus moderner war. Verlaine hat wirklich
gelitten, deshalb interessierte er weniger.
Die Einbildungskraft der in Wohlstand
und geregelten Verhältnissen lebenden Zu-
schauer, denen es ihre Mittel erlauben, arme
Künstler von der Loge der Opéra comique
oder von der Parterre-Loge der Comédie
Française
aus vor Kälte beben zu sehen,
wird mehr von theatralischen Schmerzen
befriedigt, als von der wenig interessanten
Wahrheit, die in der großen Ungerechtigkeit
des wirklichen Lebens begründet ist. Und
über dieses hartnäckige Vorurtheil wäre
manches zu sagen, das sich das Publicum
beim Verlassen aller jener Theater kaum
gesagt haben dürfte. Vor allem würde es
sich wundern, wollte man ihm das Recht
zu lachen streitig machen.

Ich habe Leoncavallos Werk nicht ge-
hört, aber ich kenne Puccinis Oper, die
noch um vieles sentimentaler sein soll.
Mimi rennt hustend durch den Schnee
und stirbt an einer so galoppierenden
Schwindsucht, wie sie nur die conventioneile
Geschwindigkeit der Theaterstücke dem
Publicum gegenüber sich erlauben darf.
Aber neben dieser Abhandlung über ein
Lungenleiden — welche Fülle drolliger
Luftsprünge, Schmausereien, Wortgefechte,
Fackelzüge, Verkleidungen, komischer

Pizzicati, burlesker Brummtöne des Fagotts,
spassiger Einfälle des englischen Horns
und des Triangels, übermüthiger Lieder,
zu denen an Flaschen der Takt geschlagen
wird etc. etc. Fürwahr, Bohémiens dieser Art
müssen zu einer munteren Musik begeistern,
dem Zuschauer einen fröhlichen Abend
bereiten! Diese Perrücken, diese Zuaven-
Beinkleider! Man kann nicht umhin, sie
köstlich zu finden! Und mancher Haus-
besitzer, der gestern dem jungen Im-
pressionisten oder dem kleinen Bildhauer,
einem begeisterten Anhänger Rodins, mit
der größten Seelenruhe gekündigt haben
mag, weil er die Miete für das Atelier
unter dem Dache oder für den Wagen-
schuppen im Hofe nicht bezahlen konnte,
lächelt nachsichtig darüber, wie spasshaft
Murgers Quartett Herrn Benoit trunken
macht, wie spasshaft dieser zwischen zwei
gefüllten Gläsern seine Quittung aus den
Händen gibt. In Wirklichkeit widerspricht
dieses Lachen der Vernunft. Rufen die
Costüme von 1830 diese Heiterkeit hervor?

Wir werden eine tiefere Ursache dafür
suchen.

Das von dem recht mittelmäßigen
Schriftsteller Murger ersonnene Buch ist
durchaus nicht lustig. Es ist vielmehr
traurig und trostlos — trotz all den
schwunghaften Tiraden und Gemeinplätzen,
die unsere Zeitungen erfüllten, als man
dieses schwächliche Werk im vorigen
Jahre
ausgrub und auf die subventionierten
Bretter brachte. Wohlgenährte, gut
besoldete Redacteure, die bereits zwei-
tausend Chroniken in ihrem Dasein hervor-
gebracht hatten, waren gerührt, wurden
sogar lyrisch angesichts „der Kraft der
schönen Jugend, die im größten Elend
ihre Fröhlichkeit bewahrt “ u. s. w.
u. s. w. »La vie de Bohème« ist trotz alle-
dem ein erbärmliches Buch, und ich glaube
kaum, dass es heute noch einen echten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 275, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0275.html)