Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 276

Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens I. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 276

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MAUCLAIR: ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.

Schriftsteller, einen Menschen von Talent
und Herz geben kann, der vor diesen
veralteten Scherzen und schwindsüchtigen
Hüsteleien keinen Ekel empfände. Alles
stößt ab an dieser Erzählung. Die Streiche
der Farbenkleckser sind mehr plump als
komisch, die sentimentalen Liebes-Tiraden
sind von einer Flachheit, die sie den
Feuilletons der Vorstadt-Zeitungen würdig
an die Seite stellt; die seltenen Darlegungen
künstlerischer Ideen sind zum Erbarmen
unbedeutend. Diese Künstler sprechen wie
Friseure und werden niemals etwas Rechtes
hervorbringen; sie sind faul und sogar
herzlos. Die einzigen sympathischen Wesen
sind die Frauen. Neben den geschwätzigen,
fast unerträglichen Individuen männlichen
Geschlechts, die moralisch nicht einmal
sauber genug sind, um den Frauen treu
zu bleiben, denen sie ein Dasein des
Schmutzes und des Elends bereitet haben,
erscheinen die Frauen liebevoll, einfach,
fleißig und voller Nachsicht gegen diese
anspruchsvollen Männer, die sie mit ihren
»Träumen« zu Tode quälen oder die Küche
besorgen lassen, während sie selber eine
Leinwand beschmieren oder über einem
Gedichte gähnen. Die Frauen leiden; sie
weinen, aber sie bleiben fein, beinahe
elegant. Mit einer Verständigkeit, die man
ihr nicht verargen kann, sucht Musette in
ihren »ernsten« Verhältnissen mit Grau-
bärten und Gelbschnäbeln aus der bürger-
lichen Gesellschaft Brot und Schutz gegen
die Prostitution; zu den Bohémiens kehrt sie
nur zurück, um zu lachen — das Einzige,
was sie ihr bieten können. Aber Mimi
ist ein Wesen, das sich nicht aufraffen
kann: sie stirbt weniger an Schwindsucht,
als an heimlichem Ekel vor der Entartung,
Faulheit und Schwäche jenes puppen-
schönen Rodolphe, der sie betrogen.
Diese Frauen stehen tausend Fuß über
den Männern — über dem Tollkopf Colline,
dieser Bibliotheksratte; über dem Tauge-
nichts Schaunard, dem Pfeifenraucher;
über dem Schmierer Marcel und über dem
Reimer Rodolphe. Es liegt über dem Ganzen
ein Geruch von Sophismus, männlichem
Egoismus und moralischer Verkommenheit,
der jeden Rechtschaffenen anwidert. Und
doch lachen und amüsieren sich wohl-
anständige Leute darüber? Was belachen
sie an diesen herzzerreißenden Abenteuern

unglücklicher Mädchen und wertloser Ge-
sellen?

Eben die Wertlosigkeit dieser Ge-
sellen!

Beabsichtigte Murger das? In seinem
ganzen Werk zeigt er zu wenig Talent
und Geist, als dass man ihm solch einen
Machiavellismus zutrauen dürfte: ich glaube,
er hielt seine Helden in Wahrheit für
Künstler; ihre Wirtshaus- und Dachstuben-
Declamationen erschienen ihm echt. Unbe-
wusst oder bewusst schmeichelte er
äußerst fein der Eigenliebe eben jener
Spießbürger, gegen die der Romantismus
geiferte. Murger hat ihnen »die Künstler«
dargestellt, Wesen also, die sie beneideten
und hassten, von denen sie sich hundert
Meilen entfernt fühlten, die sie fürchteten
und gleichzeitig anschwärzten — und er
erlaubte ihnen zu sagen: »Ach, das ist
alles
?« Er erlaubte ihnen, über diese
angeblich höherstehenden und überlegenen
Menschen zu sagen, dass sie faul, unartig,
schlecht erzogen, Egoisten und Maul-
macher seien; denn das sind sie in der
That! Der Spießbürger durfte ein solches
Urtheil über sie fällen — und zum Über-
fluss noch auf ihre schöpferische Unfähigkeit
hinweisen, denn diese »Künstler« schaffen
nichts. Und das eben ist die große Freude
der Spießer, dies das Geheimnis ihres
Lächelns, dies das Geheimnis des großen
Erfolges, den die »Vie de Bohème«. bei
den belustigten Bürgern hatte! Man
beobachte sie bei einer Vorstellung. Wenn
sie sehen, wie diese vermeintlichen Götter
auf das Niveau elender Possenreißer her-
niedersteigen, wenn sie den unseligen
Todeskampf einer Unglücklichen anschauen,
die ungeachtet ihrer Krankheit von ihrem
Geliebten gezwungen wird, ihn um sechs
Uhr morgens bei Schneegestöber in Vor-
orte-Wirtshäusern zu suchen — dann em-
pfinden sie ein solches Wohlgefallen
an sich selber
, an ihrem wohl-
geordneten Budget, an ihren gut
gekleideten Frauen
und an ihren gut
gehaltenen Kindern
(dank der »Ordnung,
Sparsamkeit und nützlichen Arbeit«), dass
sie sich ganz gerührt fühlen. Das kläg-
liche Ende dieser Leute, von denen sie
mit Worten wie: »Ideal«, »Begabung«,
»Berufung«, »Schönheit« an der Nase
herumgeführt worden, mit Worten, deren

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 276, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0276.html)