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Begriffe für ihr beschränktes Hirn völlig
unfasslich und ungreifbar sind — dieses
Ende gibt den Philistern scheinbar ein
Recht zu ihrer ganzen Lebensanschauung.
Sie wohnen diesem Bankerott voll Zurück-
haltung und feuchten Auges bei — sie
wären zur Noth sogar bereit, hundert
Sous zu einem Kranz für Mimi beizu-
steuern, und das mit der Andacht von
Personen, die es verstanden haben, ihr
Haus zu bestellen und Mitleid oder Altruis-
mus der weise berechnenden Sorge für ihre
eigene Person unterzuordnen. Vergebens
wird man versuchen, ihnen zu erklären,
dass diese anspruchsvolle, widerwärtige
Sippschaft nur aus Hampelmännern und
Künstlercaricaturen besteht, deren Kamerad-
schaft ernste Schöpferkräfte allenfalls noch
in den ersten Jahren ihrer Laufbahn er-
tragen. Sollten Spießbürger dieser Art
dies wirklich einsehen, dann würden sie
nicht ehrlich genug sein, es zu gestehen;
in der Mehrzahl der Fälle aber bleiben
sie ehrlich davon überzeugt, dass sie in
diesen vier Missrathenen »die Künstler«,
die wahren Künstler, gesehen haben.
Murgers Buch hat in der ganzen
bürgerlichen Gesellschaft den nicht wieder
auszurottenden Gedanken einwurzeln lassen,
dass der Künstler schmutzig ist, einen
durchnässten Filzhut, carrierte Beinkleider
und Binde-Cravatten trägt, dass er niemals
einen Lieferanten bezahlt, dass er schlecht
erzogen ist, selbst wenn er aus guter
Familie stammt, dass er überhaupt ein
gezeichnetes Individuum ist, gezeichnet
durch ein ganz specielles, merkwürdiges
Stigma: nämlich durch das Bestreben,
in seinem Benehmen mindestens eine auf-
fallende Verrücktheit und eine partielle
Gehirnstörung aufzuweisen! Wenn der
Schmierer den Spießbürger foppt, dann
muss sich der Spießbürger rächen. Er
rächt sich für die schmachtenden Liebes-
blicke, mit denen der »Künstler« seine
Frau beunruhigt. Er verspottet mit jener
Zurückhaltung, die ihn so gut kleidet, und
mit jener discreten Verachtung, die der
gute Ton verlangt, den betrügerischen
Bankerott des Idealismus, der ihm
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von einem unvorsichtigen Verfasser vor
Augen geführt wird, und er würde um
keinen Preis von dem verhassten »Künstler«
einen anderen Begriff haben wollen.
Dient doch dieser sehr gut seinen Zwecken
und seiner Absicht, Wiedervergeltung zu
üben! Murger wird sein wertvollster
Verbündeter gegen die hochmüthige
Eleganz Baudelaires, gegen Gautiers
Purismus, de Vignys und Lamartines
Aristokratismus, Delacroix’ düsteres
Genie, Berlioz’ stürmischen Lyrismus,
Gustave Flauberts stolze Gleichgiltig-
keit! Es scheint uns fürwahr unfasslich,
dass am Ende des XIX. Jahrhunderts eine
so armselige Maskerade ungestraft als
eine Darstellung des Künstlerlebens ge-
nommen werden konnte; es kränkt uns,
dieses Gelächter zu hören, das wie
Peitschenhiebe auf die zweifelhafte Lächer-
lichkeit dieser Marionetten herniedersaust,
die ja im Grunde gar kein Recht haben,
eine so vornehme Rolle zu verkörpern —
und mit Bitterkeit und Zorn gedenken
wir der erhabenen Armut d’Aurévillys,
Baudelaires, Villiers de l’Isle-
Adams, Henry Becques, Verlaines,
jener heiligen, heldenhaften Armut, die
da von einem sentimentalen Schwärmer,
einem geschmacklosen Schwätzer bloß-
gestellt wurde! Wir leiden bei dieser
unkeuschen Vorführung der großen Noth
des Künstlers vor seinen ewigen Feind!
Aber wir könnten die zufriedene Masse
ja doch nicht überzeugen. Wir könnten
ihr zwar auseinandersetzen, dass dieses
heilige, nothwendige Elend, mit dem
zu prahlen sogar verletzend ist, von
erlesenen Geistern mit einer Würde, einer
Geduld, einem Glauben ertragen wird,
der mit den lockeren Carnevalssitten da
auf der Bühne unvereinbar ist; wir
könnten ihr beweisen, dass es gerade
der
Bohémien
ist, der den
mittel-
losen
Künstler um die Achtung
bringt, etwa wie der falsche Bettler
den verschämten Armen, der dem Trunke
ergebene Arbeiter den intelligenten So-
cialisten bloßstellt! Sie würde es uns doch
nicht glauben
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