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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 262

Text

GLOSSE ÜBER DEN SELBSTMORD.
Von LEO TOLSTOI (Jasnaja-Poljana).

Man stellt oft die Frage: Hat der
Mensch im allgemeinen das Recht, sich
zu tödten?

Dieses Recht des Menschen kann füg-
lich nicht in Zweifel gezogen werden.
Vom Augenblicke an, da er sich zu tödten
vermag, hat er auch das Recht, es zu
thun. Ich glaube, die Möglichkeit, die ihm
gegeben ward, sich zu vernichten, hat
jedenfalls den Wert eines Sicherheits-
ventils. Da er die Fähigkeit hat, sich zu
tödten, fehlt ihm das Recht (hier ist
dieser Terminus am Platze) zu der Be-
hauptung, dass ihm das Leben uner-
träglich sei. Wenn uns das Leben quält,
steht uns die Zuflucht zum Selbstmord
frei — und folglich darf sich keiner von
uns über die unerträgliche Härte des
Lebens beklagen. Die Möglichkeit, sich
zu tödten, ist dem Menschen gegeben
worden, also hat er auch das Recht
dazu; und in der That, er macht unauf-
hörlich Gebrauch von diesem Rechte:
er sucht den Tod in Duellen, im Kriege,
in Schwelgereien, im Branntwein-, Tabak-,
Opium-Genuss etc. etc.

Man ist also nur zu der Frage be-
rechtigt: Ist es (die beiden folgenden Be-
griffe sind nicht von einander zu trennen)
vernünftig und sittlich, sich zu
tödten?

Just ebenso unvernünftig ist es, wie
etwa: wenn man einer Pflanze, die man
vertilgen will, die Schößlinge abschnitte.
Sie wird nicht sterben, sie wird unregel-
mäßig wachsen — das ist alles!

Das Leben ist unzerstörbar. Es
ist jenseits von Zeit und Raum. Der Tod
vermag nur die Form des Lebens zu
ändern, indem er der sichtbarlichen Existenz
des Lebens in der Außenwelt eine Grenze
setzt. Allein, wenn ich auf mein Leben
in dieser Welt verzichte — weiß ich,
ob mir die Form, die es in einer anderen
Welt annehmen kann, angenehmer er-
scheinen wird? Und zweitens: ich beraube

mich durch meinen Selbstmord der Mög-
lichkeit, all das Nützliche hinzuzulernen und
zu erwerben, das meinem Ich vielleicht doch
noch zu einem längeren Verweilen in dieser
Welt verholfen hätte. Im übrigen ist der
Selbstmord vornehmlich aus dem folgenden
Grunde unvernünftig:

Indem ich auf das Leben verzichte,
um den unangenehmen Dingen zu ent-
gehen, die es mir zu bieten scheint,
lasse ich deutlich erkennen, dass ich mir
über den Endzweck des Lebens sehr
falsche Gedanken mache; Ziel und Zweck
meines Lebens ist nicht, wie ich mir ein-
bilde: meine Selbstzufriedenheit
sondern: Vervollkommnung meiner
Persönlichkeit, verbunden mit Gemein-
nützigkeit meiner Handlungen, die dem
großen Gesammt-Werke des allgemeinen
Lebens nach Möglichkeit zustatten kommen
soll.

Und dies ist auch der Grund, warum
ich den Selbstmord unsittlich nenne.
Dem Menschen, der sich getödtet hat,
ward einst das Leben mit der Möglich-
keit gegeben, bis zum Eintritt eines natür-
lichen Todes auszuharren und Zeit seines
Lebens dem Leben der Allgemeinheit
zu nützen. Er aber, der sein Leben ge-
nossen, solange es ihm angenehm erschien,
weigerte sich in dem Augenblicke, da es
sich ihm unangenehm darbot, dem Nutzen
der Welt zu dienen. Denn gerade in dem
Augenblicke, da sich ihm das Leben ver-
dunkelte, begann es — aller Wahr-
scheinlichkeit nach — nützlich zu werden:
jede Arbeit hat ihren Ursprung im Leide.

In der Einsiedelei Optynaja konnte man
mehr als dreißig Jahre lang einen ge-
lähmten Mönch sehen, der — auf der Erde
liegend — nur noch seiner linken Hand
zu gebieten vermochte. Die Ärzte ver-
sicherten, dass er entsetzlich leide. Er aber
klagte nie über seinen Zustand, betheuerte
vielmehr, die Augen auf ein Heiligenbild
gerichtet, das Kreuz schlagend und be-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 262, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0262.html)