Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 263

Glosse über den Selbstmord Zur Physiologie der Frivolität und des Cynismus (Tolstoi, LeoPudor, Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 263

Text

PUDOR: ZUR PHYSIOLOGIE DER FRIVOLITÄT UND DES CYNISMUS.

ständig lächelnd, dem Herrn im Himmel
fast unablässig seine Dankbarkeit und
seine Freude über das Fünkchen Leben,
das sich in ihm bewahrte Tausende
von Pilgern suchten ihn auf — und man
möchte es kaum glauben, welch wohl-
thätig-starke Ausstrahlung von diesem
Manne, der jeder physischen Thätigkeit
unfähig war, auf seine Mitmenschen über-
gieng. Dieser Paralytische hat sicherlich
weit mehr Gutes gethan, als so und so

viele jener lebenskräftigen Leute, die
heute in den verschiedensten Wohlfahrts-
anstalten gemeinnützige Aufgaben zu er-
füllen glauben.

Solange sich der Mensch einen Hauch
seines Lebens bewahrt, kann er sich ver-
vollkommnen und der Welt nützlich er-
weisen. Nützlich ist er der Welt, indem
er sich vervollkommnet, und er vervoll-
kommnet sich, indem er der Welt nütz-
lich ist.

ZUR PHYSIOLOGIE DER FRIVOLITÄT UND DES CYNISMUS.
Von HEINRICH PUDOR (Berlin).

In unseren modernen Großstädten ist
heute kaum ein anderer Charakterzug so
ausgeprägt und so vorherrschend, wie der
des Cynismus. Die cynischeste Großstadt
Europas mag heute Wien sein, in zweiter
Linie etwa Petersburg, dann Paris, London,
Berlin, in letzter Linie etwa Rom. Die
Frivolität ist heutzutage Mode. Ein junger
Mann, der mitreden will, muss frivol sein
oder frivol thun, sofern er nicht für blöde
gehalten werden will. In der Kneipe, auf
der Straße zeigt sich offene Frivolität,
im Salon versteckte, berechnete Frivo-
lität. Ein »schneidiger« Mann ist heute
ohne einen Anflug von Cynismus nicht
denkbar. Man kann beobachten, dass
gerade die Wortführer, die »Helden«, die
Tonangebenden der Gesellschaft mit den
tausendfältigen Spielarten der Frivolität
wohl vertraut sind, wobei ich außeracht
lasse, ob sie ihnen angeboren oder aner-
zogen wurden.

Nun will ich nicht etwa von vorn-
herein ein kritisches Wort über Frivolität
und Cynismus sprechen oder gar verur-
theilend darüber richten, vielmehr soll hier
nur der Frage nachgegangen werden,
woher diese Charakterzüge kommen und
in welcher Weise sie physisch bedingt
und verursacht sind.

Der Kindheit fehlt die Frivolität
vollständig. Kindlichkeit und Frivolität
scheinen einander auszuschließen; im

Knaben- und Mädchenalter ist Frivolität
so gut wie gar nicht vorhanden, schon
deshalb, weil sie geschlechtliche
Bewusstheit voraussetzt
. Sie kann
erst mit der Mannbarkeit eintreten. Nun
können wir aber beobachten, dass sie
desto stärker auftritt, je schneller sich die
Mannbarkeit erschöpft. Das Wachs-
thum der Frivolität hält gleichen Schritt
mit der zunehmenden Bethätigung des
Geschlechtstriebes. Die Frivolität ist näm-
lich etwas durchaus Secundäres. Sie ist
sozusagen die Äußerung des Geschlechts-
triebes a posteriori. Schwerlich wird ein
Mann zu finden sein, der vor der Be-
thätigung des sexuellen Triebes im Zu-
stande seiner Vollkraft frivol ist. Frivo-
lität ist nicht nur der Kindlichkeit, dem
Kindhaften, der absoluten Keuschheit
contradictorisch entgegengesetzt, sondern
insbesondere auch der relativen Keusch-
heit. Mit anderen Worten: die Frivolität
nimmt umsomehr zu, je mehr sich der
Mensch dem physischen Unvermögen
nähert. Sie ist gewissermaßen das Katzen-
jammerspiel des Geschlechtstriebes. Ihre
Äußerungen entstehen aus dem Bewusst-
werden des beginnenden Unvermögens.
Dies trifft wenigstens bei jener Frivolität
zu, die als originale und logische Äuße-
rung des menschlichen Organismus zu
nehmen ist; in unseren Salons allerdings
wird sie heute ebenso häufig vorgeschau-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 263, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0263.html)