Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 264

Zur Physiologie der Frivolität und des Cynismus (Pudor, Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 264

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PUDOR: ZUR PHYSIOLOGIE DER FRIVOLITÄT UND DES CYNISMUS.

spielert, da doch der ganze Mensch heut-
zutage zu dreiviertel Theilen Schau-
spieler ist.

Frivolität setzt demnach eine gewisse
Abgekühltheit und Abgebrühtheit voraus
— eine Gefühlslauheit und Empfindungs-
abnahme, zum mindesten in geschlecht-
licher Beziehung. Eine andere Frage ist
es wohl, ob diese geschwächte Gefühls-
wärme bloß das geschlechtliche Gebiet
angeht, oder ob sie absolut ist; mit an-
deren Worten: ob die Minderung oder
Vernichtung der sexuellen Kräfte auch
Gefühls-Impotenz voraussetzt. Diese Frage
muss bejaht werden; Menschen, die ihre
geschlechtliche Kraft verwüsten, nützen
nothwendigerweise auch ihr gesammtes
Empfindungsleben, ihre Empfindungsfähig-
keit ab: Herz, Lunge, Gehirn, Blut, Nerven
werden gleichmäßig abgebraucht — aller-
dings spielen Anlage und Vererbung auch
in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle.
Noch charakteristischer aber als die Em-
pfindungslauheit des frivolen Menschen ist
seine vollkommene Bewusstheit des ge-
schlechtlichen Zustandes. Ist die Ebbe der
geschlechtlichen Empfänglichkeit einge-
treten, dann wird das Bewusstsein in An-
sehung des Geschlechtstriebes wach; was
an instinctivem Gefühl verloren geht, ge-
winnt der rüde Verstand; die rein äußer-
lichen Verstandeskräfte suchen den Mangel
an Empfänglichkeit, an Gefühlswärme,
Keuschheit, Triebkraft etc. zu ersetzen —
und so entsteht ein raffiniertes Geschlechts-
bewusstsein. Das Nämliche, physiologisch
ausgedrückt, bedeutet:

Im Zustande der Keuschheit sind alle
die tausend Gefässe des Gehirns mit Blut
gesättigt. Wird der Geschlechtstrieb wach,
dann beginnt das Blut im Hirn sich zu
erhitzen, zu gähren, andererseits aber zieht
es sich nach den entsprechenden Körper-
theilen hin, die in Thätigkeit treten. Wird
nun der Geschlechtstrieb nicht übermäßig
ausgeübt, so verbleibt immer noch eine
genügende Blutmenge im Gehirn: das
Bewusstsein bleibt umdämmert — und
dieser Zustand ist für den Geschlechtsact
der günstigste, da alsdann die Umnach-
tung des höheren Bewusstseins den ganzen
Menschen im Geschlechtsact aufgehen
lässt. Ist dagegen die Vollkraft, die Em-
pfänglichkeit schon erschöpft, ist — mit

anderen Worten — der Geschlechtstrieb
schon sehr stark bethätigt worden, so ist
damit auch der Blutreichthum des Gehirns
schon sehr stark angegriffen; bei jedem
neuen Geschlechtsact wird dem Gehirn aufs
neue Blut entzogen, und indem nun das
Blut nach den tiefer liegenden Partien des
Körpers drängt, tritt eine relative Blut-
leere im Gehirn ein. Absolute Blutleere
würde den Stillstand des Lebens bedeuten.
Dem aber beugt das Leben selbst vor:
das Gehirn, das nur noch soviel Blut be-
wahrt, als zur Erhaltung des Lebens nöthig
ist, gibt keines mehr ab — und so ent-
steht das sexuelle Unvermögen. Kann
dagegen noch halbwegs genügende Säfte-
abfuhr stattfinden, ohne dass das Gehirn
dabei sonderlich gefährdet wird, so findet
der Geschlechtsact bei relativ wachem
Bewusstsein statt; an die Stelle der
keuschen Natürlichkeit tritt geschlechtliche
Raffiniertheit — und diesem Zustande
eben entspringen alsdann auch in geistiger
und seelischer Hinsicht Frivolität und
Cynismus.

Schon jetzt also können wir fest-
stellen, dass Frivolität und Cynismus
Folge-Erscheinungen einer übermäßigen
Bethätigung des Geschlechtstriebes sind,
dass sie nur bei zurückgehender Fähigkeit
zu activer Geschlechtlichkeit möglich
scheinen, dass sie in ihrer Entwicklung
Schritt halten mit der relativen Blut-
armut im Gehirn, dass sie also nicht
etwa Anzeichen eines Blütezustandes,
einer sublimierten Cultur etc. sind, sondern
auf Verfall, Niedergang, Auflösung etc.
weisen, mag man das nun Decadenz,
Degeneration nennen oder sonstwie. Hier-
bei habe ich als bekannt vorausgesetzt,
dass der menschliche Zeugungsstoff aus
dem menschlichen Blute bereitet wird
und dass das Reservoir für die Bereitung
dieses Stoffes im Gehirn liegt. Jeder, der
auf sich selber Acht hat, kann beob-
achten, dass der Zustand geschlechtlicher
Empfänglichkeit im Kopfe, im Gehirn
seinen Ausgangspunkt hat. Das sexuelle
Fieber beginnt im Hirn; der Gährungs-
zustand im Gehirn erzeugt das geschlecht-
liche Vermögen. Daher kommt es, dass
bei so vielen Menschen der Kopf und das
Gesicht weit eher Verfalls-Spuren zeigen,
als der übrige Körper. So erklärt sich die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 264, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0264.html)