Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 265

Zur Physiologie der Frivolität und des Cynismus (Pudor, Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 265

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PUDOR: ZUR PHYSIOLOGIE DER FRIVOLITÄT UND DES CYNISMUS.

Verwüstung des menschlichen Antlitzes
bei geschlechtlich ausschweifendem Leben.

Das Wesen der Frivolität lässt sich
aber auch noch von einem anderen Ge-
sichtspunkte aus erfassen. Im Leben der
Menschheit hat der Geschlechtstrieb, so-
weit uns bekannt, stets als etwas Be-
gehrenswertes, Wünschenswertes, ja sogar
Anerkennenswertes gegolten. Und da
seine Bethätigung einen Genusswert dar-
stellt (ich lasse hier dahingestellt, ob be-
gründeter- oder nur eingebildetermaßen),
war man von jeher bemüht, die Aus-
übungsfähigkeit dieses Triebes für eine
möglichst lange Zeit des Lebens zu er-
halten. Dieses Bestreben förderte das
Hervorbrechen des Cynismus. Die Genuss-
begierde, stets aufs neue angestachelt, fand
in der physischen Ermattung keine Grenze
und wurde über die Erschlaffung der
Sinne hinaus rege erhalten. Das, was
vordem genügt hatte, geschlechtsbereit zu
machen, konnte nur mehr einen — Witz
hervorlocken. So entstand das, was man
Frivolität nennt. Je intensiver sich die
Geschlechtsmüdigkeit hervordrängte,
desto reichlicher war Grund zur Frivolität
gegeben. Als Ergebnis einer sexuellen Ab-
gespanntheit ist sie also etwas durchaus
Logisches; sie ist das folgerichtige Product
und die Begleit-Erscheinung jener ge-
schlechtlichen Ernüchterung, die sich auf
cerebrale Versandung und Austrocknung
zurückführen lässt: Frivolität ist nicht
weniger eine geistige als eine physische
Blamage; sie verkündet ebensosehr eine
psychische wie eine geschlechtliche Ver-
armung und Unfruchtbarkeit. Und in der
That kann man beobachten, dass Menschen,
die zu Frivolitäten neigen, an Frische und
Reichthum des Intellects und des Gemüths
ebensoviel zu wünschen übrig lassen, wie
an geschlechtlicher Empfänglichkeit und
sinnlicher Capacität. — Frivolität bedeutet

auch Gleichgiltigkeit hinsichtlich der
natürlichen Reize. Der Frivole ist unter
Umständen immer noch genussfähig, aber
die gewöhnlichen Reize vermögen ihn
nur zu einem »Bonmot« anzuregen: er
wird cynisch.* Die Erinnerung an die
Freuden des Geschlechtsactes, die Tradition
und Convention, die sogar hier eine Rolle
spielen, erwecken in ihm stets wieder
den Durst nach neuen Genüssen. Nun
setzt aber der geschlechtliche Genuss über-
strömendes Gefühl, Empfänglichkeit, Er-
regbarkeit voraus. Der Frivole dagegen
ist dessenungeachtet im Grunde seiner
Natur stets ernüchtert, kühl, gleichgiltig;
er muss daher nach einer künstlichen
Aufstachelung des Gefühlslebens verlangen,
so oft er sich Befriedigung holen will;
der Geschlechtsact kann nicht mehr auf
natürlichem Wege bethätigt werden: die
Fähigkeit hiezu wird also auf unnatürliche
Weise erzwungen.

Hier haben wir die fundamentalen
Gründe der zeitgemäßen Degeneration.
Die Blasiertheit des modernen Menschen
schreibt sich ebensosehr wie der frivole
Cynismus von seiner geschlechtlichen Er-
nüchterung und seiner Gleichgiltigkeit
gegenüber den naturgemäßen Reizen her.
Und wenn wir heute von einem Men-
schen, der über alles in cynisch-roher Weise
witzelt, sagen: »Ihm ist nichts mehr
heilig« — so rühren wir an einen Zustand,
der nebenher auch cerebrale Vertrocknung
und sexuelle Unempfindlichkeit voraussetzt.
Und wenn wir von einem anderen sagen:
»An die Natur, an die Kunst muss man
mit ehrfürchtiger Scheu herantreten, er
aber ist zu alledem nicht mehr fähig« —
so sprechen wir da auch von Dingen, die
eigentlich in einem gewissen physischen
Manco, in einer dadurch bedingten Ver-
eisung des Gemüthslebens ihren Grund
haben.

* Das Wort »cynisch« will das gemein Thierische, »Hündische« eines solchen Zustandes
bezeichnen, obwohl derlei unwürdige Zustände unter Thieren weit seltener zu finden sind als
unter Menschen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 265, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0265.html)