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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 267

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BLEIBTREU: APHORISMEN ÜBER DAS KARMA.

Wiedergeburt abschleifende organische Ver-
änderungen hervor: Ewige Evolution der
sittlichen und intellectuellen Kräfte.

Gewiss, »Gut« und »Böse« im gewöhn-
lichen Sinne gibt es nicht, das Jenseits
von Gut und Böse ist kein leerer Wahn,
nur liegt es nimmermehr auf dem wirren
unlogischen Irrpfad, wo Nietzsches blonde
Bestie darnach sucht. Auch ist seine ab-
struse »Genealogie der Moral« höchst
überflüssig für esoterische Buddhisten. Eben-
so ist alle Größe nur relativ, deshalb die
Ich-Vergötterung des Übermenschen ein
Aberglaube, aus Verkennung des wirklich
»genialen Menschen« geboren. Die Karma-
Lehre bereitet diesem Größenwahn ein
jähes Ende, denn sie fußt naturgemäß auf
der inneren Gleichheit aller Menschen-
schicksale und predigt die Befreiung aller,
auch der Thier- und Pflanzenseelen, wie
ja schon der Esoteriker Paulus andeutete:
»Mit uns sehnt sich alle Creatur.« Ob
früher oder später das befreiende End-
Karma eintritt, das zur Befreiung (Erlösung)
führt, kommt ja aufs gleiche hinaus. Un-
kundige aber legen dem Buddhismus, der
ihnen nur von der exoterischen Seite be-
kannt wurde, eine Moralpfafferei bei, von
der sein wahrer (esoterischer) Sinn nichts
weiß. Karma ist nicht »Lohn« und
»Strafe«, sondern logische Folge
innerer Causalität
.

Gerade weil es keine äußere Gerech-
tigkeit im Weltlauf gibt und ein Jenseits
ohne Prä-Existenz undenkbar, daher jensei-
tige Ausgleichsvergeltung im theologischen
Sinne unmöglich ist, kann einerseits das
religiöse Bedürfnis nur durch das Karma-
System gerettet werden; andererseits aber
setzt letzteres erst das Ich in seine ge-
bürenden Rechte ein, die ihm sowohl
verschwommener Pantheismus als ober-
flächlicher Materialismus schmälern will.
Ebensowenig wie das Zerschneiden elek-
trischer Drähte die elektrische Kraft selber,
sondern nur ihr momentanes Spiel an

einer Stelle aufhebt, kann auch das Zer-
fallen der Zellen-Zusammenfügung (»Tod«
genannt) deren allgemeine Wirkung aus-
tilgen, nämlich die Fähigkeit zu indivi-
duellem Leben. Da die Natur sparsam und
knauserig verfährt, wird sie nicht ihre
mühsamste That vergeuden, nämlich die
»Persönlichkeit«. Darunter sei freilich nicht
die absolut vergängliche »Person« ver-
standen, sondern die Idee dieser Person,
die sich unzerstörbar im Astral-Licht bewahrt.

Die esoterische Theosophie hat, richtig
erfasst, gar keine Ethik der »Moral«,
sondern eine Glückseligkeitslehre, kennt
eigentlich nur den Begriff »Weise« und
»Thöricht«. Nicht um seiner Bosheit willen
ist das Böse verwerflich, sondern als nackte
Manifestation des bornierten persönlichen
Egoismus, der immer logisch zur inneren
Selbstverzehrung führt, während der Weise
den Egoismus als Thorheitsschranke und
betrügerische Täuschung verwirft. So sind
denn die »Sieben Pfade zum Heil« nicht
unnatürlich schwere Moralgebote, sondern
Anweisungen zur Herrschaft über Ich und
All, wovon die Yoga-Lehre handelt. Selbst-
losigkeit und Ausrottung des Sinnlichen
— einer Täuschung der Materie — sind
eben der einzige Pfad zum wirklichen
Übermenschen (Mahatma).

Nirwana ist weder ein »Himmel« (De-
vachan), noch ein »Nichts«, sondern
das Allgefühl, der Universal-Affect, wovon
auch Giordano Bruno wusste, also ein
heroischer Aufschwung. (Bekanntlich
verabscheut Gotamo Buddha jede dumpfe
Askese.) Auch bedeutet Nirwana nicht Auf-
hören des wahren (transcendenten) Ich,
sondern nur der Personen, die auf der
Karma-Bühne deterministische Rollen her-
unterspielen. Der Karma-Wille ist unfrei,
das transcendente Ich naturgemäß vom
freien Willen des Gott-All umflutet; aus
diesem Widerspiel ergibt sich die freie
Nothwendigkeit
, die Möglichkeit der
inneren Wiedergeburt (Erkenntnis).*

* VERF. wird ein Drama unter dem Titel »KARMA« im September dieses Jahres in
Wien zur Aufführung bringen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 267, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0267.html)