Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 268

Die platonische Liebe III. (Neera)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 268

Text

DIE PLATONISCHE LIEBE.
Von NEERA (Mailand).
III.

Ist die platonische Liebe zwischen
Mann und Weib möglich oder nicht?

Sie ist möglich! San Francesco
und Santa Chiara antworten uns sieg-
reich, Dante stellt sich gleich neben sie;
und sollten hier Michel-Angelo und
Vittoria Colonna gar nichts zu sagen
haben? Wir haben auch von Jauffré Rudel
und vielen anderen gehört, von Beispielen
also, in denen die Liebe wirklich platonisch
war, d. h. frei vom Sturme der Sinne
und — wie Plato es wollte — beseelt
von einem tiefinneren Bedürfnis nach
geistiger Erhebung. Aber im ge-
wöhnlichen Leben nennt man jene Liebe
platonisch, die aus dem Kampf gegen die
Sinne siegreich hervorgeht, indem sie der
rohen Stimme des Instincts eine Reihe
höherer Notwendigkeiten entgegenstellt,
unter anderen auch das Streben zum
Ewigen, das die ihrer Natur nach ver-
gängliche sinnliche Liebe nur in geringem
Maße befriedigen könnte. — — Es lassen
sich also die verschiedensten Arten
platonischer Liebe denken, die, von der
ersteren, seltensten ausgehend — denn
selten sind die wahrhaft großen Seelen
— sich in allerdings absteigenden Linien
entwickeln; doch, sind diese auch ab-
steigend, so hängen sie dennoch so innig
mit dem ursprünglichen Kern zusammen
und sind so reich an Verästelungen und
neuen Bildungen, dass sie allein schon
einen Beweis für die Lebensfähigkeit des
Keims bilden. — — Wir könnten also
die Fälle platonischer Liebe in zwei Kate-
gorien eintheilen; in die erste hätten wir
die platonische Liebe im eigentlichen und
engeren Sinn zu stellen — die selten,
aber möglich ist — und unter die
zweite, sehr reichlich besetzte Kategorie
wäre jene Liebe (in ihrer mannig-
faltigen Erscheinungsform) einzureihen,
die einerseits zwar die Anziehung der Sinne

empfindet oder zu empfinden die Fähig-
keit hätte, bei der aber andererseits diese
Anziehung durch geistige und seelische
Elemente so sehr beherrscht und übertönt
ist, dass man gemeiniglich geneigt ist,
auch diese Liebe »platonisch« zu nennen.
Im übrigen lässt es sich sehr schwer
feststellen, wo das Reich der Sinne be-
ginnt und wo es, abstract genommen,
endet. Ein Dichter hat einmal gesagt:
»Tout vrai regard est un désir« Wir
müssen zugeben, dass sich das Begehren
in seinen ersten Stadien nur allzu oft mit
den anderen Fähigkeiten des Impulses ver-
mengt, und wenn es jemandem möglich
ist zusagen: »An jenem Tage, in jenem
Augenblicke hatte ich die klare Vorstellung
meiner Begierde«, so wird doch niemand
(sei es nun durch mühseliges Nachforschen
oder im Aufblitzen der Intuition) den ge-
heimnisvollen Ursprung und das Fort-
schreiten der Begierde genau und ehrlich
feststellen können. Als mächtiger Baum
schüttelt der begehrende Wille seine Blüten
und Früchte auf die Erde und verbirgt
die Wurzeln im geheimnisvollen, keuschen
Schoß der großen Mutter Natur

Die Einwände, die man gegen die —
wie man sagt — zumeist gezwungenen
Ursachen der platonischen Liebe macht,
erscheinen mir von geringer Bedeutung.
Wenn diese Liebe nicht durch Wahl
platonisch wäre, könnte sie dieselben Kräfte
des Widerstandes und Kampfes, die sie
aufwendet, um die Begierde zu besiegen,
daran wenden, die Vorurtheile, Befürch-
tungen, Gewissenszweifel, die zeitlichen
und räumlichen Hindernisse etc. zu über-
wältigen, um sich die ersehnte Befriedigung
zu verschaffen. Sie thut dies auch stets,
wenn der glühende Wunsch nach Besitz
überwiegt; sie thut dies jedoch nie, wenn
sie die körperlose Anziehung der Geister
ist und lediglich den Gründen weicht, die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 268, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0268.html)