Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 270

Die platonische Liebe III. Moderne Bühnen-Ästhetik (NeeraLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 270

Text

LINDNER: MODERNE BÜHNEN-ÄSTHETIK.

Namen der Gleichheit der Atome sein
eisernes Joch auferlege. — Im übrigen
aber wissen wir, dass die menschliche
Seele nach Selbstvervollkommnung strebt
und einst einen Tag sehen muss, an dem

man nicht mehr von physischer oder
platonischer Liebe sprechen wird, sondern
einfach von der Liebe schlechthin in ihrem
höchsten Sinne.

THEATER. MODERNE BÜHNEN-ÄSTHETIK.
Von ANTON LINDNER (Wien).

Die Berliner Secessionsbühne,
deren reformatorisch-künstlerische Bestre-
bungen bereits in wenigen Worten an
dieser Stelle * skizziert wurden, hat vor
einigen Tagen mit ihrem Gastspiel in
unserer Stadt begonnen und alsbald die
respectvollste Wertschätzung jener Wenigen
errungen, die in nothwendigen und starken
Versuchen nicht die absolute Erfüllung
aller problematischen Möglichkeiten suchen,
vielmehr glücklich und dankbar sind, wenn
sie die ersten kräftigen Ansätze als will-
kommene Verheißung eines reifen Ge-
lingens nehmen können.

Man darf eben die Anläufe dieses
neuen Beginnens nicht wie eine end-
giltige Leistung abschätzen wollen, die
sich etwa als fertiges Muster dem
Urtheil der Krittler darbieten möchte.
Es war eine alberne Pose unserer Wiener
Tageskritik, dass sie die species aeterni, die
sonst jahrzehntelang in ihrem Futteral
ruht, just diesem Berliner Unternehmen
gegenüber wie eine böswillige Brille hervor-
holte. Es war dies auch eine völlig miss-
verständliche Taktik, die deutlich erkennen
ließ, dass man die Absichten dieser neuen
Bühne leider vom Grund aus verkenne.
Denn es ist eine in Wahrheit recht neben-
sächliche Frage, ob uns die Schauspieler
dieser jungen Truppe im Augenblicke
Vollendetes darbieten; sie wissen wohl selbst
zur Genüge, dass mit den verfügbaren
armen Mitteln nichts Vollkommenes zu
erzwingen ist. Aber ihre Absichten soll
man erkennen, ihrer Thatkraft gerecht

werden, ihrem Künstler-Ernst sich beugen!
— Einige junge Leute, die fast alle in
bürgerlichen Theatern gedient und zum
Theile noch dienen, haben sich sommers-
über zusammengethan, um in unge-
wöhnlichen (alltagswidrigen) Stücken, denen
die Zunftbühnen verschlossen sind, die
Möglichkeit einer ungewöhnlichen (»fest-
lichen«**) Regie zu beweisen. Diese Regie
sucht nicht im Ensembledrill und Milieu-
Fetischismus der preußischen Bühnen,
nicht im Einzelcult und Tapeziererpomp
der südlicheren Bühnen ihre praktisch-
ästhetische Aufgabe. Vielmehr will solche
Regie die gleichsam gebundene Bildlich-
keit wecken, die — unkenntlich fast
dem Auge, das sich am abstract Lite-
rarischen unserer Zeit verdorben — in
jedem organisch gefügten Dichterwerke mit
wachen Sinnen schlummert; die groß-
zügigen Linien, in die sich die Gefühle,
Leidenschaften, Stimmungen, Rhythmen und
Worte jedes einheitlich geformten Dichter-
werkes im Augenblicke des Schauens
flüchten, will sie lautlos erklingen machen;
sie perhorresciert vor allem anderen, so-
fern sie sich selbst zu verstehen weiß,
jede äußerliche Einkleidung der scenischen
Vorgänge in jenes decorative Brimborium,
in jenes stillose Nebenher oder Ringsum,
das auf den Geschäfts- und Hofbühnen
unserer Großstädte als illustrierendes
Bildwerk zwar inhaltliche, stoffliche
Beziehungen aufweist, aber jeden inner-
lich-geistigen Zusammenklang missen
lässt. In der bildenden Kunst wurde das

* IV, 14, S. 254.

** Vgl. Goethe zu Eckermann, 22. März 1825. — Vgl. auch die Aufsätze von Georg
Fuchs, »W. R.«, in, 13, 20, 21.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 270, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0270.html)