Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 271

Moderne Bühnen-Ästhetik (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 271

Text

LINDNER: MODERNE BÜHNEN-ÄSTHETIK.

Genre überwunden, in der malerischen
Auffassung der Scene
(Decorationen,
Costüme, Requisiten) thut ein Nämliches
noth; soll sich das Bühnenbild — in
seinen Bestandtheilen zurückgeführt auf die
einfachsten Grundformen der monumentalen
Farben- und Linien-Wirkung — zu einem
harmonischen und stilgemäßen Organismus
runden, dann darf die Decoration in ihrer
Gesammtheit nicht mehr schwatzhafte
Illustration sein, darf nicht mehr unmittel-
bar erzählen wollen, nicht über die gleich-
giltige Wahrheit der Außenwelt rein
äußerlich informieren; aber sie soll uns
die letzten Geheimnisse des Dramas, die
seelischen Räthsel seiner Figuren, deren
Worte an uns vorüberrauschen, in jener
verschwiegenen Sprache enthüllen, die aus
dem Klange der Linien und Farben, aus
dem melodischen Weben der Perspec-
tiven und Fernsichten unsägliche Kräfte
schöpft; sie soll uns solchermaßen das
ganz Unsagbare, dessen wir bedürfen, um
in den besonderen Schwingungs-
takt der Dichtung zu fallen, durch
Sichtbarliches vor unser Auge rücken.
Wie sehr mag namentlich die Bühnen-
Ästhetik des alten griechischen Theaters
dieser Forderung nahegekommen sein!

Will man die Malerei, die Architektur,
Sculptur, Musik als erlauchte Dienerinnen
der Scene herbeirufen, dann wird man
vorerst zu lernen haben, dass diese
schwesterlichen Künste, so scheu sie auch
scheinbar zurücktreten mögen, nur als
selbstschöpferische, also gleich-
wertige Wirkungselemente eingreifen
dürfen und lediglich Das zu geben,
schöpferisch zu geben, also zu
schaffen haben, was nicht die Wort-
kunst des Dichters, nicht die Geberde,
nicht die Persönlichkeit des Schauspielers
anzudeuten vermag. Oder, wie es an dieser
Stelle bereits* ungefähr ausgedrückt wurde:

Die Malerei soll sich zum Bühnen-
vorgang verhalten, wie die Musik zum
Operntext; sie soll Das hinzufügen, was
das Wort nicht sagen kann; wo also
Decoration verwendet wird, hat diese eben-
falls ein Neues zubringen. Die bildende
Kunst hat nicht das Ziel, Ausstattungs-

stücke oder »natürliche« Milieus zu schaffen,
vielmehr ist ihr Zweck: den Gesang
ihrer Linien
, die Macht ihrer
Farben zum Drama zu steigern
.
Auf inneren Einklang kommt es an. Das
Hauptgewicht der ganzen Decoration,
die vom Zuschauerräume durch einen
monumentalen Rahmen abgeschlossen
wird, ist auf den Hintergrund zu legen.
Die Malerei ist soweit stilistisch und
ornamental zu behandeln, dass die ganze
Stimmung der Scene durch sie in
Erscheinung tritt. Sie hat nicht »Natur«
darzustellen, sondern durch tiefgründige
Umbildung der äußeren Dinge das Wesen
des Dramas zu veranschaulichen. Der Stil
englischer, amerikanischer, schottischer,
belgischer Künstler (Walter Crane, Burne-
Jones
, Beardsley, Khnopff, Whistler,
Brangwyn**, Van de Velde, Gerald
Moira***, Rysselberghe, die Boys
of Glasgow etc. etc.) könnte uns die
Legenden- und Puppenspiel-Gestalten der
letzten Jahre — aber auch Shakespeare,
Calderon, Molière und die Alten —
scenisch wahrhaft erleben lassen.

Und in der That: die Maeterlinck-
Aufführung der Secessionsbühne (»Pelleas
und Melisande«) brachte uns den »monu-
mentalen Rahmen«, der die traumhaft
belebten Geschehnisse des Hintergrundes
mit breiten, schwarzen Contouren
umschloss und die bildhafte Wirkung der
Attitüden ins Placatale emporhob. Auch
hatten einige Scenen den Willen, an Crane
und Khnopff zu erinnern; das wird ihnen
vollends gelingen, sobald die reicheren
Mittel gestatten werden, Specialcostüme
und -Tafeln nach den Zeichnungen der
Meister herstellen zu lassen.

Wie man sieht: derlei reformatorische Ab-
sichten sind ihrem innersten Wesen nach
durchaus unbürgerlich, unpreußisch, un-
berlinisch. Auf Umwegen kommt diese
Bühnen-Ästhetik und wohl nur deshalb aus
Deutschland (München, Darmstadt, Berlin), weil
hierzulande zwar Schläfrigkeit und wachsames
Übelwollen, doch keinerlei Spürsinn oder
Thatkraft ist. Wenn schon also der lediglich
künstlerische Kern dieser Ästhetik,
den man schwerlich begreifen konnte, seine
Wirkung auf die Theaterkritiker Wiens
versagt hat, so hätte doch wenigstens,

* IV, 12, S. 215.

** Glascartons.

*** Cartons.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 271, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0271.html)