Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 273

Moderne Bühnen-Ästhetik (Lindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 273

Text

LINDNER: MODERNE BÜHNEN-ÄSTHETIK.

Aber der Zufall ist ein enfant terrible.
Neben den Ereignissen läuft er einher, wie der
schattenhafte kleine Narr neben dem wohl-
beleibten großen König, und schellenklingelnd
schlägt er zu dem pathetischen Ernst des
Dicken die parodistischesten Capriolen. Indes
man Maeterlinck als stilisierten Cretin nahm
und mit den zerschlissensten Phrasen aus
Nordaus bankerotter Requisitenkammer be-
kleidete oder, was weitaus schlimmer scheint,
die immerhin noch annehmbare Begabung des
belgischen Meisters schulterklopfend bestätigte,
darüber hinaus aber auch nicht die geringste
Anstrengung machte, seiner Kunst mit reinen
Sinnen gewissenhaft-prüfend nachzugehen —:
erschöpften die Circus-Referenten der Blätter
zu gleicher Stunde allen verfügbaren
Geist, Ernst, Fleiss und Raum in den
liebevollsten, umständlichsten Studien über
die Ohrfeigen - Technik Kara Achmeds
und Pytlasińskis Genickgriffe, über die
Pirouetten, Rouladen und sensitiven Bauch-
tritte des Beaucairois und über die wahr-
haft herzerfreuende ceinture de derrière des
liebenswürdigen Herrn Aimable de la
Calmette
. Zu gleicher Stunde auch gab
es ellenlange (»nicht endenwollende«, wie es
im Jargon heisst) Jubelreferate über die er-
frischenden Reize einer widerwärtigen Bordell-
posse, die unter dem Titel »Die Schöne
von New-York
« soeben mit nackten Beinen
über die Bretter einer vielbelauschten Sommer-
bühne geht und das ganze rentable Wien,
soweit es nicht das Salzkammergut verun-
reinigt, mit brünstigem Lockruf auf ihren gast-
lichen Schoß zieht. Ganze Bataillone schmieg-
samer Unterhöschen, Wadenbändchen, Spitzen-
höschen werden gefallsam mobilisiert, ganze
Fleischbänke verwegenster Leiblichkeit werden
in findigen Arrangements vor den Augen der
schnüffelnden Horde enthüllt und in beweg-
lichen Worten feilgeboten, auf dass der ästhe-
tische Schauer solcher gesunden Sinnlichkeit
jene nämlichen Wiener läutere, die man mit
rabbihaftem Pathos und fast in Einem Athem
vor der hektischen Perversität des Herrn
Moritz Maeterlinck aus Brüssel warnt! Und in
das Lied Melisandens, der arg verlästerten:

Meine langen Haare kommen
Vom Thurm hinab zum Grund;
Meine Haare, Liebster, kommen
Zu dir an Thurmes Grund,
Und warten Stund um Stund —
Und warten Stund um Stund!
Sanct Daniel und Sanct Michael,
Sanct Michael und Sanct Raphael
Ich kam zur Welt am Sonntag,
War just die Mittagsstund — —

mischt sich siegreich das grazile Leitmotiv
der New-Yorker Schönen, das binnen kurzem
zu den beliebtesten deutschen Volksliedern
unserer städtischen Intelligenz gehören wird:

Lange Mädel — kurze Mädel —
Dumme Mädel — dicke Mädel —
Schwarze, rothe, blonde Mädel —
Ja, die Mädel!

Wie dem auch sei: die reformatorische
Idee, die der Gründung der Secessions-
bühne zugrunde liegt, hat sich in künst-
lerischer Hinsicht als durchaus lebens-
kräftig bewährt; das Unternehmen, dem
man nun auch größere Popularität und
die materiellen Voraussetzungen einer
ungehinderten und reichen Entfaltung
wünschen möchte, hat seine Nothwendig-
keit vollauf erwiesen. Es stellt heute den
ersten Versuch dar, Principien der
modernen Kunst-Erziehung ins Praktisch-
Bühnenmögliche umzusetzen, den ver-
lotterten Geschmack der Scene ästhetisch
zu revolutionieren! Schon darum ist es
zu loben, schon darum muss man ihm
dankbar sein. Die Anerkennung der
Officiellen wird späterhin schon folgen:
ist der Goldwagen erst im Rollen, stellen
sich Pintscher und Pagen in vollen
Rudeln ein!

Vorderhand aber ist es noch gar nicht
abzusehen, welch nachhaltige Befruchtung
der gesammten Theater-Cultur unserer
Tage aus diesen Strebungen erwachsen
kann.

So mag vielleicht im Verlaufe der Ent-
wicklungen, die ja seit jeher von unschein-
baren, unbeachteten, verlachten Anregungen
ihren schöpferischen Anstoß empfangen
haben, die Entstehung der Secessionsbühne
zu einem Ereignis von einschneidendster
Wichtigkeit auf dem Gebiete des modernen
Theaterwesens werden. Sehr bald dürften
verwandte Reformen und Nachbildungen,
was zu wünschen ist, in allen Kunstcentren
entstehen: noth thäte es, sie zu fördern.
Was heute noch den Überpfiffigen als
snobistische Spielerei erscheint,
kann morgen schon den guten Leuten ein
praktisches Bedürfnis sein! Zum mindesten
werden die Asselwürmer des Naturalismus
in ihre Kellerlöcher zurückkriechen und
endgiltig darin vermodern. Der Respect
vor dem nichtigen Detail muss schwinden,
muss einer malerisch-großzügigen Betrach-
tungs- und Behandlungsweise weichen. Und
an die Stelle der falschen, kleinlichen, nun
nachgerade auch langweilig gewordenen
Wahrhaftigkeit wird die festliche Lüge
treten, die lediglich den Gesetzen der ihr
immanenten Wahrheit gehorcht. Eine
andere Wahrheit hat es in den großen
Epochen der Künste nie gegeben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 15, S. 273, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-15_n0273.html)