Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 282

Brief aus Paris Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (Panizza, OscarDrews, Arthur, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 282

Text

DREWS: DIE DEUTSCHE LITERATUR DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS.

das Krächzen junger Adler: Vive la France!
Auf dem ganzen Platz, bis zur Chambre
des Députés
, zur Seine und zum Aus-
stellungsthor — der eine Schrei der Ent-
lastung: Vive la France! und
drüben, auf der langen Rampe des Jardin
des Tuileries
, unter den Tausenden von
Schwitzenden und Erschöpften — der eine
Ruf, Kinder- und Damenstimmen und
Stimmen von Dienstmädchen: Vive la
France!
wie wenn ein Hagel-
wetter nach wochenlanger Hitze über die
Felder geht, und Riesen-Schloßen prasselnd
unter die dürren Maiskolben und Schilf-

blätter fallen, so erlöste hier der eine
Schrei: Vive la France! die stundenlang
Erschöpften und zum Stillschweigen Ge-
zwungenen

Dann zog man hinüber zur hübschen,
kleinen Pucelle auf ihrem goldenen
Pferdchen und wiederholte dasselbe —
und auf dem ganzen Weg raunte und
flüsterte man sich zu: Pas de discours!
— Keine Reden! — Nicht wahr, meine
Herren? C’est entendu?

Das war der quatorze Juillet im
Jahre 1900
.

DIE DEUTSCHE LITERATUR
DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS.
Von PROF. ARTHUR DREWS (Karlsruhe).

Richard M. Meyer hat vor kurzem ein
umfangreiches Werk* herausgegeben, das
die deutsche Literatur des neunzehnten
Jahrhunderts in umfassender Weise be-
handelt; es bildet den dritten Band der
Sammlung: »Das neunzehnte Jahrhundert
in Deutschlands Entwicklung«. Das Buch
hat, soviel ich sehe, bisher mehr Verur-
theilung als Anerkennung gefunden. Dass
dabei vielfach gekränkte Autoren-Eitelkeit,
auch wohl ein bischen Antisemitismus,
sowie particularistische Abneigung gegen
alles, was aus Berlin kommt, mitgespielt
haben, das kann dem tieferen Blick nicht
verborgen bleiben. Gewiss, das Meyer’sche
Werk hat seine großen Mängel. Schon seine
unsystematische und willkürliche Eintheilung
des Stoffes nach Jahrzehnten ist höchst
anfechtbar und hat die schlimmsten Nach-
theile zur Folge. Zusammengehöriges,
das sich über verschiedene Jahrzehnte
hinaus erstreckt, wird dadurch vielfach

auseinandergerissen, Personen werden an-
einandergereiht, deren Namen man an
ganz anderer Stelle suchen müsste u. s. w.
Dazu kommt, dass das ganze Werk den
Eindruck des Zusammengetragenen macht.
Es sind Aufsätze über die verschiedenen
Schriftsteller, die nur nothdürftig zu einem
Ganzen verbunden wurden. Gesuchte Geist-
reichigkeiten stehen oft genug an Stelle tiefer,
eindringender Untersuchungen, und zahl-
reiche Widersprüche tragen dazu bei, das
Oberflächliche und Überhastete der Arbeit
offenbar zu machen. So wird z. B. Fontane
einmal »der erste consequente Realist der
deutschen Literatur« genannt, was bereits
vorher mit genau denselben Worten von
Georg Büchner gesagt war. Auch kann
man dem Werke mit Recht zum Vorwurf
machen, dass es die Modeansichten einer ge-
wissen Berliner Literaturschule mit gar zu
großer Treue widerspiegelt und sich nirgends
auf die Entdeckung von Neuland einlässt.

* Richard M. Meyer: »Die deutsche Literatur des XIX. Jahrhunderts«. Verlag Georg
Bondi
. Berlin, 1900. 966 Seiten. — Das Werk gliedert sich in zehn Capitel, die je ein Jahrzehnt
literarischer Entwicklung behandeln: 1800—10, 1810—20, 1820—30, 1830—40, 1840—50, 1850—60,
1860—70, 1870—80, 1880—90, 1890—99. Beigegeben ist eine tabellarische Übersicht (»Annalen«
betitelt), die (»als eine Art Repetition« gedacht) die charakteristischesten Bücher des Jahr-
hunderts, nach Einzeljahren geordnet, verzeichnet. Acht Vollbilder (Gottfried Keller, Annette
v. Droste-Hülshoff, Heinrich Heine, Fritz Reuter, Friedrich Hebbel, Theodor Fontane, Paul
Heyse, Gerhart Hauptmann) sind dem Texte eingefügt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 282, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0282.html)