Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 283

Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (Drews, Arthur, Prof.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 283

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DREWS: DIE DEUTSCHE LITERATUR DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS.

Aber trotz alledem, so geringfügig ist
das Buch keineswegs, dass man über der
Hervorhebung der Mängel seine großen
Vorzüge übersehen dürfte. Zunächst ist
das Werk größtenteils trefflich ge-
schrieben und dadurch ganz besonders ge-
eignet, Freunde der Literatur in das com-
plicierte Schriftthum des vergangenen Jahr-
hunderts einzuführen. Meyer ist zwar kein
tiefer, aber doch immerhin ein geistvoller
Darsteller, dem man mit Vergnügen folgt,
der in vieler Hinsicht anregt, und dessen
Bild der deutschen Literatur des neun-
zehnten Jahrhunderts im ganzen doch
wohl richtig getroffen ist. Sein Buch ist
aus Feuilletons zusammengesetzt, die viel-
leicht zum Theil schon längere Zeit im
Schreibtische des Verfassers geschlummert
haben; aber diese sind mehrfach ganz be-
sonders gelungen, nämlich überall dort, wo
Meyer mit dem Herzen bei der Sache ist;
und wem das hinzugekommene Drum und
Dran nicht gefällt, der kann sich doch an
diesen Krystallisationskernen des Buches
erfreuen. Zu diesen wirklich guten und
lesenswerten Abschnitten rechne ich z. B.
die Ausführungen über Grillparzer,
Heine, Hebbel, Anzengruber,
Hauptmann, vor allem aber die Dar-
legungen über Keller und Fontane, die
Meyer mit sichtlicher Liebe und Antheil-
nahme abgefasst hat, womit indessen
keineswegs gesagt sein soll, dass sich in
den Capiteln über die übrigen Schriftsteller
nicht ebenfalls viel Gutes fände. So
scheinen mir auch die Abschnitte über
Scheffel, Wildenbruch, Hamerling
im ganzen wohlgelungen. Sehr lesenswert
sind auch die kurzen Charakteristiken der
allgemeinen geistigen Beschaffenheit der
verschiedenen Jahrzehnte. Die modische
Sucht dagegen, bestimmte Persönlich-
keiten durch die Hervorkehrung ganz
zufälliger Äußerlichkeiten zu charakte-
risieren, scheint mir ein grober Unfug,
der nicht scharf genug bekämpft werden
kann. Was soll man z. B. zu der fol-
genden Stilblüte sagen: »Es gibt kaum
einen Ort der Welt, der zu stiller, para-
diesischer Ruhe mehr einzuladen scheint
als das herrliche Bellaggio. Die elysischen
Gärten mit dem betäubenden Geruch der
Olea fragrans scheinen eine sybaritische
Ruhebank zu bilden, zu deren Füßen der

Comer See leise mit musikalischem Rhyth-
mus unser Ohr umschmeichelt. Man ist ge-
fesselt, wie in den Zaubergärten Armidens.
Hier, wo die Eile eigentlich eine klima-
tische Unmöglichkeit, sahen wir einen
großen Mann in weißem Flanellanzug,
einen Schlapphut auf dem länglichen,
eckigen Kopf mit dem stilvollen dunklen
Bart, hastig durch die Orangen-Alleen
stürzen. Es war Sudermann. Heyse
wäre hier mit leisem, wiegenden Schritt
gewandelt; Hölderlin hätte sich ins
Gras gelegt und still um sich geschaut.
Das ist der Unterschied dreier Zeitalter!«

Man hat dem Verfasser auch vielfach den
Vorwurf der Standpunktlosigkeit gemacht.
Wenn damit der allgemeine Gesichtspunkt
gemeint sein soll, von dem aus er die
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts
betrachtet, so kann ich diesen Vorwurf
in jener Fassung nicht berechtigt finden.
Meyer huldigt in ästhetischer Hinsicht dem
sogenannten Realismus und versucht sogar,
in ähnlicher Weise wie Muther in seiner Ge-
schichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts,
von diesem Standpunkte aus eine Ent-
wicklung der deutschen Dichtung, einen
Fortschritt in der geistigen Aneignung
der gesammten Wirklichkeit
nachzu-
weisen. Wenn dabei doch nicht alles stimmen
will, und wenn es ohne Gewaltsamkeiten und
Schiefheiten nicht abgeht, so trägt die
Hauptschuld daran der Realismus selbst,
der viel zu unbestimmt und vieldeutig
ist, um als Princip durch ein Werk von
neunhundertsechsundsechzig Seiten geleiten
zu können, und, streng genommen, über-
haupt kein ästhetisches Princip darstellt,
sondern nur durch die gedankenlose Über-
tragung naturwissenschaftlicher Begriffe in
das Gebiet der Ästhetik zustande gebracht
wurde. Auch Meyer bedient sich jenes Prin-
cips mehr im Sinne einer intensiven (sub-
jectiven) Erfassung der concreten Wirk-
lichkeit, als im Sinne einer möglichst wahr-
heitsgemäßen (objectiven) Wiedergabe, ohne
jedoch diese beiden ganz verschiedenen
Auffassungsweisen auseinander zu halten.
Bei diesen Schwankungen des Sprach-
gebrauches sind denn auch seine ästheti-
schen Auseinandersetzungen durchwegs
wertlos; sie müssen es bei jedem Schrift-
steller sein, der sich nicht klar gemacht
hat, dass das Wesen des Ästhetischen nur im

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 283, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0283.html)