|
Schein beruht, dass der Schein als solcher
immer nur ein idealer sein kann, dass
es daher absolut keinen Sinn hat, von
ästhetischem Realismus zu sprechen und
diesen als Maßstab an ein Kunstwerk an-
zulegen.
Worauf es dem Verfasser eigentlich
ankommt, ist seine Maxime: dass der Schein
als ästhetischer Schein concret oder sinnlich
sein muss, und keine abstracten, re-
flexionsmäßigen Bestandtheile enthalten
darf. Nur insofern sei man berech-
tigt, die Intensität des inneren Erleb-
nisses zum Kennzeichen des wahren
Künstlers zu machen, als jene eine der
psychologischen Bedingungen ist, unter
welchen die Idee des Künstlers sich rest-
los in ästhetischen, d. h. sinnlichen oder
Sinnenschein umsetzt. Aber das ist eben
nur eine Bedingung neben anderen, und
keineswegs ist ihre Erfüllung allein schon
imstande, ein wirkliches Kunstwerk hervor-
zubringen. Oder sollte die dichterische
Größe Goethes wirklich nur in der sinn-
lich anschaulichen Form seiner Dichtungen
und nicht zum mindesten ebensosehr in
der Art des idealen Inhalts beruhen, der
aus dem Sinnenschein herausscheint?*
Die Folge dieser einseitigen und verworrenen
Auffassung vom Wesen des Ästhetischen
ist, dass Meyer auf die »Ideen« der Dich-
tungen soviel wie nichts, auf ihre schein-
hafte Einkleidung dagegen alles gibt und
daher den Ideendichtungen nicht gerecht
wird. Man ist zwar vollkommen berechtigt,
den abstracten Idealismus Hamerlings zu
bekämpfen, weil es diesem eben meist nicht
gelungen ist, seine Ideen in
Sinnen-
schein
umzusetzen; die begriffliche Re-
flexion zerstört bei ihm oft die Einheit des
Scheins, und die Ausbrüche glühendster
Sinnlichkeit und abstractester Gedanken-
haftigkeit stehen bei ihm nicht selten
unvermittelt neben einander. Denselben
Vorwurf kann man auch Jordan machen,
nur dass die Reflexionen bei ihm noch
trockener sind, die Lehrhaftigkeit bei ihm
noch unangenehmer hervortritt. Aber Meyer
erweckt durch seine Darstellung den An-
|
schein, als sei der geistige Gehalt einer
Dichtung überhaupt höchst gleichgiltig,
und als käme alles nur auf die formelle
Scheinhaftigkeit der Werke an, was ihn
dann häufig genug zu Ungerechtigkeiten
auf der einen und zu Übertreibungen auf
der anderen Seite verleitet.
Seiner Vorliebe für den Realismus ent-
spricht sein allgemeiner philosophischer
Standpunkt. Nicht zufällig zeigt Meyer
eine gewisse Hinneigung zum Sensualis-
mus und Materialismus eines Feuerbach,
Dühring, Haeckel und dementsprechend
eine entschiedene Abneigung gegen alle
speculativen Philosophen. Es ist charakte-
ristisch, dass er in seiner (übrigens auch
sonst sehr unzulänglichen) Darstellung
der Romantik den geistigen Vater der-
selben, Fichte, überhaupt nicht erwähnt,
Schelling nur ein einzigesmal beiläufig
nennt und Hegel nur mit einigen Zeilen
streift. Von der Existenz einer theistischen
Speculation im zweiten Drittel des Jahr-
hunderts, die doch die Dichtung der
Reactionszeit nicht weniger beeinflusst hat,
als der Materialismus eines Vogt und
Büchner, erfährt man bei Meyer nichts,
und Schopenhauer wird nur ganz ober-
flächlich behandelt, trotz Meyers entschie-
dener Stellungnahme gegen den Pessimis-
mus. Dass Darwin eine »neue Welt-Auf-
fassung begründet« und den Pessimismus
»überwunden« habe, ist eine Übertreibung,
die besser den Zeitungsschreibern überlassen
bliebe. Völlig maßlos aber ist Meyers über-
schätzende Verhimmelung Nietzsches,
dem gegenüber er — was ihm auch die
Anhänger Nietzsches verübeln müssen —
den kritischen Blick fast völlig verliert.
Die Art, wie der Autor einen E. v. Hart-
mann abthut, beweist nur das Eine: dass
er niemals eine Zeile dieses großen
modernen Denkers ernstlich gelesen haben
kann. Andernfalls hätte es ihm nicht
passieren können, dass von allen Bemer-
kungen, die er über ihn macht, auch nicht
eine zutrifft. Geradezu komisch aber ist
es, wenn er Hartmanns Pessimismus nur
als »Voraussetzung Nietzsches« auffasst,
|