Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 285

Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts Die internationale Kunst in Paris I. (Drews, Arthur, Prof.Gourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 285

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GOURMONT: DIE INTERNATIONALE KUNST IN PARIS.

ihn einen »müden« Pessimismus nennt
und ihm gegenüber den Optimismus —
Dührings, Haeckels und Nietzsches
preist! Als ob nicht wenigstens Dühring und
Nietzsche genau in demselben Sinne Pessi-
misten wären, wie Hartmann, und als ob
nicht der »evolutionistische« Optimismus,
welchen jene vertreten, zuerst von Hart-
mann formuliert und verfochten worden
wäre! Statt dergleichen veraltete und
thörichte Urtheile über Hartmann dem

bloßen Hörensagen nachzusprechen, wäre
es wahrlich zu wünschen, dass sich unsere
Schriftsteller und Kunstkritiker endlich
einmal an das Studium der Hartmann’schen
Ästhetik machten, um die heutige Zer-
fahrenheit zu überwinden und vernünftige
ästhetische Maßstäbe zu gewinnen, ohne
die eine Literaturgeschichte über ein sub-
jectives Raisonnement und ein feuilleto-
nistisches Grundgepräge nicht hinaus-
kommen kann.

DIE INTERNATIONALE KUNST IN PARIS.
NOTIZEN AUS DEM GRAND PALAIS DER WELTAUSSTELLUNG.
Von REMY DE GOURMONT (Paris).
I.

Die Production überwuchert hier alles
Maß. So ungefähr müsste sich der Eco-
nomist ausdrücken, dem die Aufgabe
zufiele, eine Statistik der Malerei und
Sculptur abzufassen, die sich ihm im
Bereiche der Ausstellung aufdrängen. Das
mag sich nicht sonderlich ehrerbietig aus-
nehmen; aber Keiner, dem die Kunst lieb
ist, Keiner, der sie leidenschaftlich liebt,
könnte im Angesichte des Gebotenen
anders sprechen. Der Werke gibt es
viel zu viele, und viel zu wenige darunter
sind ersten Ranges, viel zu wenige
geben jene Sensation des Neuen, des Un-
erwarteten, ohne die keine Kunst im
eigentlichen und höchsten Sinne des Wortes
möglich ist. Mehrerer Wochen bedarf es,
um auch nur einigermaßen diese zahllosen
Tafeln zu prüfen, die im Grand Palais
auf den Elysäischen Feldern zu sehen
sind. Die Außenseite, die ganze äußere
Anlage geht ins Ungeheure, aber die wahr-
haft interessanten Werke sind in verhältnis-
mäßig sehr kärglicher Zahl zu finden. Ver-
gebens sucht man gewisse bekannte Bilder,
von denen man sprechen gehört, von denen
man gelesen, und die der Weltausstellungs-
besucher in den einzelnen Abtheilungen der
Völker nicht ohne große Berechtigung nun
auch mit eigenen Augen bewundern möchte.

Es geschah hier, dass die besten Tafeln
dieses oder jenes hochbegabten Malers im
gewünschten Augenblicke nicht zur Dis-
position waren: die Museen oder die
privaten Mäcene, in deren Besitz sie sich
befinden, wollten sie nicht aus den Händen
geben. Es geschah auch, dass die Rivalität
der Schulen gewisse Neuerer und deren
Werke aus der gemeinsamen Ausstellung hin-
ausdrängte. Schließlich gab es auch Einige,
die sich freiwillig von der Betheiligung
ausschlossen. Aus diesen mannigfaltigen
Gründen ist hier beispielsweise Italien ganz
besonders schlecht vertreten — so schlecht,
dass selbst ein Italiener, der bedeutende Kunst-
kritiker Ugo Ojetti, den Muth hatte, diese
traurige Inferiorität frank und frei zu con-
statieren. Sogar Frankreich lässt Manches
vermissen, das zu der Vollständigkeit des
Entwicklungsbildes in erheblichem Maße
beigetragen hätte: vielen der origi-
nalsten Künstler hat die Jury den Ein-
tritt einfach verwehrt; auch die Im-
pressionisten wären vollkommen aus-
geschlossen worden, wenn sie nicht Mittel
und Wege gefunden hätten, ihre Werke
hinter dem Rücken der Jury einzu-
schmuggeln! Und dabei steht es doch
fest, dass gerade die Impressionisten
Frankreichs die wichtigste, die charakte-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 285, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0285.html)