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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 286

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GOURMONT: DIE INTERNATIONALE KUNST IN PARIS.

ristischeste und folgenreichste Kunstbe-
wegung der letzten Jahre repräsentieren!

Dies vorausgeschickt, lasse ich hier
verschiedentliche Noten folgen, die ich
mir — Land um Land — auf langen
Spaziergängen durch den Palast der
Malerei für die Leser der »W. R.« sorg-
sam aufgezeichnet habe:

ITALIEN.

Die Ausstellung Italiens lässt sich in einen
Namen zusammenfassen: Giovanni Segan-
tini — von dem in diesen Blättern bereits
öfters die Rede war. Dieser Meister, lange
Zeit verkannt, ist, wie man weiß, erst kurz
vor seinem Tode, den wir seit einem Jahre
beklagen, zu allgemeiner Berühmtheit gelangt.
Gleichwohl war er schon seit langem in seiner
Heimat und in jenen wenigen Städten geschätzt,
die es mit Sonder-Ausstellungen seiner Werke
im Laufe der letzten Zeit versucht haben: so
in Berlin, Dresden, München, Wien, Stockholm,
Kopenhagen. Aber Frankreich kannte ihn fast
gar nicht. An keinem unserer jährlichen Salons
hat er theilgenommen, vielleicht aus Scheu,
die Jurys vor den Kopf zu stoßen, deren
Entscheidungen oft so bizarr sind, vielleicht
auch, weil er sich — gleichsam als Supple-
ment zu seinem Ruhm — die Weihen des
französischen Geschmacks für die Zukunft
bewahren wollte. Zu früh ist er gestorben, als
dass er sich noch persönlich dieser Weihe
freuen könnte; doch, wenn sie nun auch posthum
ist, bleibt sie nicht minder ehrenvoll. In unserer
Neigung zu Parallelen und Gleichstellungen
haben wir Segantini bereits Rang und Platz
an der Seite Millets angewiesen. Dies mag
ganz gerecht scheinen. Beide hatten, fühlt
man, eine Seele, die zugleich zart und rauh
war, eine jener Seelen, die dazu gemacht sind,
vor allem anderen die Natur zu lieben — und
mit einer heiligen, tiefen Liebe. So innig
hiengen sie ihr an, dass sie die Civilisation
verließen, um in einem Milieu von Bauern,
Wäldern und Feldern zu leben. Millet und
Segantini waren große Sentimentale — weit
mehr, als große Künstler. Sie hatten mehr
Liebe, als Geschicklichkeit, mehr Gefühl und
Witterung, als Technik; in mühsamster Arbeit
lernten sie ihr Metier. Dies fühlt man beispiels-
weise in Segantinis Alla Stanza, einer unge-
schickten Schöpfung, die nur durch ihren
Empfindungsinhalt gefällt. Später änderte und
vervollkommnete er seine ein wenig eintönige
Manier und schuf (unter dem Einflusse impres-
sionistischer Theorien) Werke von starker
Kühnheit und machtvoller Originalität. Seine
Meisterschöpfung scheint das Triptyphon Von
der Natur, vom Leben und vom Tode
zu sein
— ein Werk von Genie, Wissen und Willens-
kraft. Manche aber ziehen diesen großen Com-
positionen seine kleinen Studien vor, wie z. B.
die Rückkehr in den Schafstall. Das sind die
Nämlichen, die auch dem weitberühmten An-
gelus die traurige Kirche von Gréville vor-

ziehen, in die Millet nichts weiter als Gefühlsinnig-
keit, Einfachheit und Wahrheit hineingelegt hat.

Ist Boldini, der in der italienischen
Section ausstellt, ein italienischer Maler?
Vielleicht. Aber er ist, wie wir wissen, weit
mehr als Pariser bekannt; er lebt in Paris
und liebt nur Paris. Da sind einige seiner
Porträts: zunächst die Figur Whistlers, dessen
Züge an eine herausgeputzte, nervöse Katze
erinnern; da ist ferner Herr v. Montesquiou,
der decadente Poet, mit dem Kopf eines
mondänen, gelangweilten Don Quixote. Boldini
liebt bekanntlich das Bizarre, Excentrische;
er hat eine ganz besondere Vorliebe für durch-
sichtige Frauen, für diese luftartigen, ätherischen
Geschöpfe, denen man in Paris begegnet und
die aus einem leichten, biegsamen Stahlgeflecht
gemacht zu sein scheinen, über das ein
geschickter Schneider katzenartig-schillernde
Seide gebreitet und harmonisch in Fältchen
gerafft hat.

Da sind auch Michettis ungeheuere
Leinenstücke, die sich Die Schlangen, Die
Krüppel
etc. betiteln. Das will grandios sein und
ist recht dürftig. Die Gestalten gleichen Glieder-
puppen. Sieht man von diesen überflüssigen
Figuren ab, dann bleiben zwei interessante,
doch allzu einförmig-realistische Landschaften.
Weit eher könnte man an Ettore Titos See.
an Conconis Grab, an Cesare Laurentis
Neuer Blütezeit, an Carcanos Mais-Ernte
Gefallen finden: gewandte Malerei, nicht sehr
persönlich, aber Das, was man »gute Landschaft«
nennt.

Die italienischen Porträtisten sollten
ihren Landsmann Boldini um einige Lectionen
bitten; Grazie und Distinction — das könnten
sie bei ihm lernen. So hätte uns namentlich
Grosso, ohne seiner kräftigen, gedrungenen
Weise Gewalt anzuthun, Figuren von minderer
Schwere und lichterer Frische geben können.

Résumé: Von Segantini abgesehen, der
todt ist, und von Boldini abgesehen, der ein
Pariser ist, entspricht in der ganzen italienischen
Abtheilung kein einziges Bild der Idee eines
Kunstwerkes, das würdig wäre, in dem ge-
waltigen Rahmen einer internationalen Aus-
stellung repräsentierend zu figurieren. Italien
versteckt sich — oder es schmollt.

HOLLAND UND BELGIEN.

Wie der Himmel, so die Malkunst. Ein
wirklicher Maler muss seine Farbe noth-
gedrungen mit dem Gesammt-Ton des Lichtes
in Einklang bringen. Man kennt die grauen,
sanften Tage Flanderns und Hollands, man
weiß auch, dass die Abende dort bisweilen
sehr leuchtend sind. Gibt es Licht, dann
ist es von einer seltsamen Art, die man in
den Ländern der Sonne nicht erlebt, von einer
bewunderungswürdigen Feinheit und Körper-
losigkeit. Es ist nicht transparent, es gleicht
farbigem Dampf und macht lange Perspectiven
unmöglich — aber es lässt sich auf den nach-
barlichen Dingen nieder, auf den Häusern,
auf dem Wasser, auf den Wiesen, wie eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 286, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0286.html)