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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 288

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GOURMONT: DIE INTERNATIONALE KUNST IN PARIS.

hier nur durch John Lavery vertreten;
Gunthrie fehlt bedauerlicherweise. Brangwyn
stellt nur ein einziges Werk (den Markt zu
Bushire
) aus, das uns aufs neue die eigen-
artige Coloristik, Unabhängigkeit und Kühn-
heit dieses interessanten Künstlers bestätigt.
Brangwyn würde es sehr verdienen, bekannter
und fleißiger studiert zu werden. Wenn über-
haupt noch Einer die künstlerische Ehre der
heutigen englischen Malerei zu retten vermag,
so ist es er — er einzig und allein.

DIE VEREINIGTEN STAATEN.

Die amerikanische Kunst ist kosmopolitisch.
Das ist ein Reflex Europas. Nirgends unter
den Neuesten ein besonderer, ein individueller
Charakter; hier, in diesem Winkel, ein Maler
von echt deutscher Inspiration; dort ein
anderer, der ganz englisch ist; drüben einer,
der sicherlich holländisch ist; und dieser da
ist unbedingt französisch.

Gleichwohl gibt es drei Künstler amerika-
nischen Ursprungs, die sich kraft ihrer Origi-
nalität jeder Classification entziehen. Ich meine:
Whistler, Alexander und Sargent.
Man kennt sie in Europa — und zu den
Jüngsten gehören sie nicht. Alle drei kommen
weit eher aus Paris, als aus New-York. Sargent
stellt alljährlich in unseren Salons aus. Photo-
graphien nach Gemälden Alexanders sind in
allen Schaufenstern zu sehen. Whistler, der
eine geflissentlich geringere Verbreitung hat,
genießt sogar, wie man weiß, einen Weltruf.
Das Porträt seiner Mutter, das im Luxembourg
hängt, weist viele Vorzüge des analogen
Bildes von Rembrandt in der Gallerie zu
Amsterdam auf. Whistler ist klar, präcise und
dennoch geheimnisvoll. Seine Malerei scheint
seltsam zu lächeln, ohne dass man zu sagen
wüsste, was hinter diesem mystischen Lächeln
liegen mag; sie scheint sehr einfach und ist doch
von einer ungewöhnlichen Compliciertheit. Dies
dürfte von den großen malerischen Gedanken
kommen, die der Ausführung Whistler’scher
Gemälde vorauszugehen pflegen. Da gibt es
keine Zufälligkeit; alles geht auf eine groß-
artige künstlerische Gewandtheit zurück, die
den Eindruck des Spontanen weckt und diese
Illusion wachhält. Hier ist beispielsweise seine
berühmte Dame in Weiss, die vor langen
Jahren ein Kunst-Scandal war und jetzt
als Meisterwerk allgemein bewundert wird!
Hier sind auch zwei Porträts: er selbst und
eine weibliche Gestalt — beide so delicat wie
sicher ausgeführt, beide hingehaucht und fest-
umrissen zugleich. Whistler, der Amerikaner,

ist der aristokratischeste unter den Künstlern
unserer Zeit; er ist auch der persönlichste
und angefeindetste. Er ist er selbst.

Ein Maler von so seltener Originalität
musste nothwendigerweise einen Einfluss auf
seine Zeitgenossen ausüben. Dies ersieht man
namentlich aus den ersten Werken Alexan-
ders. Aber dieser Schüler hat bisweilen seinen
Meister erreicht; später riss er sich von ihm
los und kam so zu einer persönlichen, ein
bischen bizarren, doch hinreißenden Manier.
Nichts Reizvolleres als seine sehnsüchtigen,
gleichsam wellenartigen Frauen! Und in
gleichem Maße: nichts Besonneneres, Bestimm-
teres, Kräftigeres als sein Porträt Rodins!

John Singer Sargent unterscheidet sich
von diesen beiden in vielfacher Beziehung.
Whistler und Alexander sind Feministen;
Sargent hat von den Menschen und Dingen
eine durchaus männliche Anschauung. Das ist
ein Starker. Mit einem seltenen Reichthum an
Verve, Eleganz und Ungezwungenheit ver-
bindet er große Kenntnis der Formen und
Farben. Zwar lässt er ein wenig Phantasie
vermissen; auch fehlt seiner ganzen Art das
Unerwartete, das Verblüffende; dafür aber gibt
es heute nur sehr wenige Malereien von so
starker Solidität und Zuverlässigkeit, wie die
Porträts John Sargents.

Im Gefolge dieser Drei — die zusammen
maschieren; Whistler etwa um einige Schritte
voraus — sehen wir: William Dannat mit
einem guten Porträt der Schönen Otero,
Melchers mit Jungen Holländerinnen
und Georg Inness mit äußerst fein nuan-
cierten Landschaften. Man könnte ferner noch
ungefähr dreißig schöne Landschaften und
angenehme Bildnisse anführen — eine sehr
schätzenswerte Ehren-Escorte jener erstclassigen
Werke, die sich in erster Linie den Blicken
aufdrängen.

Viel künstlerische Vitalität gibt es in den
Vereinigten Staaten — oder, besser gesagt,
unter den Künstlern, die aus den Vereinigten
Staaten stammen; denn die meisten dieser
Maler wohnen in Paris, in Italien oder anders-
wo, nur eben nicht in ihrer Heimat. Dies er-
sieht man schon aus den Bildern, auch wenn
man die Biographie der einzelnen Maler nicht
kennt: die Landschaften der Amerikaner zeigen
uns Ansichten aus allen Weltgegenden, nur
eben nicht aus Amerika, das sie völlig ver-
nachlässigen.

Die Vereinigten Staaten bilden, scheint
es, auch auf künstlerischem Gebiete eine Pflanz-
stätte von Individuen — weit eher, als eine
Nation.

(Ein zweiter Artikel folgt.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 16, S. 288, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-16_n0288.html)