Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 294

Der Schwachsinn des Weibes Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens II. (Sokal, EduardMauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 294

Text

MAUCLAIR: ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.

beurtheilt werde, als die männliche Lüge.
Darum sollte auch das Gesetz auf den
physiologischen Schwachsinn des Weibes
Rücksicht nehmen. Unsere Gesetze sind
im großen und ganzen nur für Männer
gemacht; für den Minderjährigen ist ge-
sorgt, das erwachsene Weib aber wird
im Strafrechte dem erwachsenen Manne
gleichgeachtet; nicht einmal für einen
mildernden Umstand gilt irgendwo weib-
liches Geschlecht. Möbius tadelt dies und
stimmt darin übrigens, wie oben angedeutet,
mit dem Criminalpsychologen H. Groß
überein. Nach der Ansicht dieser beiden
Gelehrten überschätzen wir das
Weib als Zeugin und behandeln
es zu hart als Angeklagte
.

Als getreuer Schüler Schopenhauers
ist Möbius auch der Ansicht, dass dem
Menschen der Intellect, wie den Thieren
Klauen und Zähne, als Waffe im Kampfe
ums Dasein verliehen worden sei. Der
Geist ist ihm eine Bethätigung des Willens
zum Leben in seiner zweifachen Form:
als Wille zur Selbsterhaltung und als

Wille zur Fortpflanzung der Gattung.
Liegt aber nicht schon in dieser zwie-
spältigen Unterscheidung eine Andeutung
für den Art-Unterschied des männ-
lichen und weiblichen Geistes? Wenn
Hunger und Liebe die Welt regieren, so
ist der Genius des Hungers dem Manne,
der Genius der Liebe dem Weibe eigen.
Der Genius des Hungers hat durch das
Medium männlicher Geistesheroen die
Natur aufgewühlt und unterworfen. Der
Genius der Liebe aber hat den Schmuck,
das Spiel, die schaumgeborene Aphrodite
hervorgebracht, die den Mann durch die
Nacktheit ihres Körpers und das Mysterium
ihrer Seele bezwingt.

Mit diesen und ähnlichen Argumenten
sucht Möbius sein Evangelium vom
physiologischen Schwachsinn des Weibes
zu begründen. Es ist nicht uninteressant,
ihm und den Anderen, die ihm gleich-
gesinnt sind, zu folgen. Denn: wer die
Gegner will versteh’n, muss in der Gegner
Lande geh’n.

ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.
Von CAMILLE MAUCLAIR (Marseille).
II.

Murgers Werk hat gleichsam Gesetzes-
kraft erlangt in Frankreich. Von ihm
datiert sich ein unzerstörbares Vorurtheil
gegen die Moralität und das Betragen des
Künstlers. Manche (auch ungewöhnlich
begabte) Künstler scheinen seinem Ver-
hängnis verfallen zu sein; sie klammern
sich an äußerliche Merkmale des Origi-
nellen, an absonderliche Kleidung und
auffällige Haltung; selbst bei der best-
geordneten Lebensweise und der voll-
kommensten Beherrschung weltklugen Be-
nehmens bewahren sie Spuren jener
romantischen Kleidung, die von dem
Mittelstand an ihrer Kaste gebrandmarkt
wird. Und während sie sich naiverweise
damit schmücken, wie mit einer anti-
bürgerlichen Uniform, sehen ihre Ver-

leumder freudig solcher Maskerade zu —
wie sie ehemals die Juden als unter-
scheidendes Abzeichen die gelbe Mütze
tragen ließen.

Es wäre indessen Zeit, gegen den Irr-
thum zu reagieren, den dieses klägliche
Buch in seiner verlogenen Sentimentalität
hervorgebracht hat. Da wir nun in einer
jener seltenen Perioden leben, die jede
falsche Achtung vor dem Conventionellen
verbannen und unbarmherzig den wahren
Wert der Menschen und Gedanken prüfen
möchten; da andererseits der Künstler, der
bis jetzt abseits gestanden und sich dem be-
schämenden Schicksal gefügt hat: in socialer
Hinsicht als wertlos zu gelten, nunmehr
in die erste Reihe der Energischen vor-
gedrungen ist — — so wäre es angebracht,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 294, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-17_n0294.html)