Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 295

Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens II. (Mauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 295

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MAUCLAIR: ZUR PSYCHOLOGIE UND ÜBERWINDUNG DES BOHÉMIENS.

mit unbarmherzigem Beil die verlogene
Größe des Zigeunerthums
nieder-
zuschlagen — dieses falsche Ideal,
das gewisse junge Künstler noch immer
verführt und irreleitet! Fallen muss es
umsomehr, als es der Mittel-
mäßigkeit eine Handhabe gegen
das wahre Ideal und die echte
Seelengröße bietet
. — Es muss ge-
sagt werden ohne Zögern: das »Zigeuner-
thum« steht zu dem Leben des armen
Künstlers in keinerlei Beziehung
.
»Zigeunerthum« ist seelische Schwäche
und Entwürdigung des Charakters; es drängt
sich Keinem durch die Umstände auf. Es
liegt in dem Individuum selber. Die That-
sache, schlecht genährt und schlecht ge-
kleidet zu sein, macht es nicht aus. Es
gibt Leute, die trotz ihres Reichthums
Bohémiens sind, weil sie faulenzen, die
Ellenbogen auf den Tisch stemmen, nächte-
lang in den Cafés hocken, in den Wirts-
häusern Pfeifen rauchen, auf den Sofas
der Ateliers herumliegen, Zoten erzählen,
unmögliche Theorien aufstellen, auf den
Straßen flanieren, im Chorus schreien und
die Arbeiterinnen oder Dienstmädchen un-
glücklich machen. Es gibt andererseits
arme, junge Leute, die keine seidenen Cra-
vatten und keine Riesen-Calabreser tragen,
höflich sind, arbeiten und still und stolz ihre
»Portion« aus dem Milchgeschäft holen, um
sie in einer Dachstube oder in einem Atelier
aufzuessen, das weder staubig noch un-
ordentlich ist. Murgers Lärmmachern
gegenüber steht der von Victor Hugo in
den »Misérables« mit so ganz anderer
menschlicher Wahrheit gezeichnete Marius
— da ist ferner Berlioz, der mit dem
Frohsinn eines Weisen sein Brot über die
Straße trägt, Wagner, der in der Markt-
hallen-Gegend wohnt und im Orchester der
Tingeltangels mitspielt, dabei aber über
seinen »Lohengrin« nachdenkt! Es gibt
ein schönes, schweigsames, ernstes
und reines Elend, das Elend der echten
Kunstschöpfer.

Nicht der Mangel an Geld ist es, der
die Bohème ausmacht, vielmehr in erster
Linie der Mangel an moralischer Bildung,
an Herrschaft über sich selbst und an
geistiger Scham. Es ist das ein Sich-gehen-
lassen des ganzen Individuums. Wir alle
kannten den Bohémien beim Eintritt in

unsere Laufbahn. Wir sahen ihn, den mit-
theilsamen, guten Jungen, den unerschöpf-
lichen Schwätzer, der dem Erstbesten bei
einem Glase Bier von seinen Plänen in
der Kunst, seinen Schwärmereien, seinen
Gemüthsbewegungen, seinen Liebessachen
erzählt, alles heraussagt, was ein vornehmer
Mensch für sich oder für sehr seltene,
intime Freunde bewahrt, und also sein
Inneres wie sein Äußeres zur Schau stellt.
In Wirklichkeit steckt aber hinter dieser
sich breitmachenden Gutmüthigkeit ein
von Neid geplagter Nörgler, der seine
Ohnmacht kennt, der aber in der Welt
der Missrathenen von jener großen Eitel-
keit zurückgehalten wird, die einen fana-
tischen Spießbürgersinn verräth, von der
bornierten Eitelkeit nämlich, berühmte
Hände zu drücken, unter »Literaten« zu
figurieren und scheinbar als Märtyrer des
Ideals zu gelten. Selbst die Armut und
die Ohnmacht haben ihre Gigerl, und wenn
Murgers Rodolphe an seiner Feder beißt
und die Augen gen Himmel emporhebt,
ist er ein Gigerl der armen Literatur.
Wir kannten so manchen Jungen, auf
den prächtige Güter, gute Renten,
schöne Jagdgründe und Weinberge in
irgendeiner schönen Provinz warteten,
und der sich bis in sein Alter auf Wirts-
häuser versteifte, wo man Verse schreiend
hersagte, der sich seinen Magen verdarb,
die Zeit mit dummen Mädels verbrachte
und die Widerwärtigkeiten aller möblierten
Wohnungen durchkostete, einzig deshalb,
weil er diese sonderbare und unnatürliche
Eitelkeit nicht überwinden konnte. In der
Bohème gibt es keinen Geist des Ver-
zichtens und der künstlerischen Interesse-
losigkeit. Fast alle wirklichen Künstler
waren zu Beginn ihrer Laufbahn arm;
aber sie haben stets zu arbeiten verstanden
und sie bezahlten ihre Farben oder ihren
Marmor mit dem Gelde, das Murgers
Marcel in der Kneipe verprasst. Auch
haben sie diese Armut stets als einen
vorübergehenden Zustand betrachtet, aus
dem man durch Arbeit herauskommen
müsse, und der die schöne moralische
Folge hatte: ihnen die herzzerreißende
Kehrseite des menschlichen Lebens zu
enthüllen und die Festigkeit ihrer Über-
zeugung und ihres Talents auf die Probe
zu stellen. Dagegen wird man sich Murgers

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 295, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-17_n0295.html)