Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 296

Zur Psychologie und Überwindung des Bohémiens II. Ästhetik der Gasse (Mauclair, CamilleLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 296

Text

LINDNER: ÄSTHETIK DER GASSE.

Schaunard oder Rodolphe niemals anders
vorstellen, als sie sind, nur dass sie im
Alter mit ihren Perrücken und ihren lang-
weiligen Redensarten lächerlich und
peinlich wirken werden. Der Bohémien
beschließt sein Dasein mit diesem
vorübergehenden Zustand; er erzählt
sein ganzes Lebenlang, dass er etwas
hervorbringen werde, bis zu dem Tage,
an welchem er die Haltung eines alten
Kämpfers annimmt, den die Unbarmherzig-
keit des Lebens gehindert hat, sich aus-
zusprechen. Der Bohémien ist vor allem
ein unehrlicher Geist; dem Begriffe
der künstlerischen Unabhängigkeit des
Geistes und den anarchistischen Theorien
entlehnt er das Recht auf Müßiggang und
vollkommenen moralischen Ablass. Den
Mangel an Zartgefühl nennt er Ideen-
freiheit; die Faulheit beschönigt er mit
der Ausrede, dass er die »Inspiration«
abwarten müsse. Der Arbeitende widert
ihn an: er wirft ihm seine regelmäßige
Stunden-Eintheilung als ein Zeichen von
Spießbürgerlichkeit vor, aber er lebt von
den Gedanken der Arbeitenden, die er
umschreibt und nach seiner Elle misst.
In Wirklichkeit ist der Bohémien ein
Schmarotzer am Geiste und Leibe des
armen Künstlers. Er stellt ihn in den
Augen des Publicums bloß, ahmt seine
Werke nach, zieht aus seiner Ehre Vor-

theil und, um ihm seine widerwärtige
Kameradschaft aufzudrängen, nützt er
die Nachsicht und das mit einer gewissen
Schwäche gemischte Mitleid aus, welches
den wahren Künstler oft verleitet, mit
Bewusstsein durchs Leben zu vagabun-
dieren.

Die Region der Freiheit und selbst
der Zügellosigkeit ist ein Gefängnis, wie
alle socialen Kategorien. Man wird in der
Bohème wie in der Chronik der Gesell-
schaft eingetragen. Beruflich unabhängig
sein, heißt doch immer noch, von irgend-
etwas abhängen. Was die Lebensweise
der Bohème anlangt, so ist es empörend,
dass man sie just den Vertretern der-
jenigen Staatsclasse in die Schuhe schieben
möchte, die sich ihrem Berufe nach am
meisten geistiger Vornehmheit und einer
hohen Entwicklung moralischen Zartgefühls
nähert! Wenn überhaupt Einer in einfacher,
ungekünstelt edler Handlungsweise, in der
Durchbildung des Herzens und Geistes,
in der Unantastbarkeit des Anstandes und
des Charakters, in der Sicherheit des
guten Geschmacks erfahren sein soll, so
ist es wohl vor allem jenes Wesen, das
— von jedem brutalen Sport, jedem
Handel und jeder Gewaltsamkeit entfernt
— abstracten Interessen dient und den
Gedanken oder die Kunst zu seinem Haupt-
studium macht.

(Schluss im nächsten Hefte.)

ÄSTHETIK DER GASSE.
Anlässlich der Decorierung Wiens am 18. August dieses Jahres.
Von ANTON LINDNER (Wien).

Es ist eine absonderliche Erscheinung,
dass wir Barbaren werden, so oft wir uns
festlich geberden. In angenehm erhöhten
Augenblicken, die unserem inneren Jubel
ein Pförtlein öffnen, auf dass er auch die
Anderen zu Zeugen seiner Anmuth mache,
werden wir hässlich, schwerfällig, oft
widerwärtig und schrill. Das kann man
verschiedentlich beobachten, zu allen

Stunden und bei mannigfacher Gelegenheit.
Geheime Bändigung der beifälligen Triebe
und inniges Bestreben, in allen äußeren
Bethätigungen des inneren Menschen die
schöne Linie nicht zu verkrümmen, in die
sich jede Explosion der Affecte nach
außen hin flüchten kann, setzt eine heim-
liche Cultur der Seele voraus, die nicht
jedermanns Sache ist. In Schönheit löst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 296, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-17_n0296.html)