Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 301

Ästhetik der Gasse Die internationale Kunst in Paris II. (Lindner, AntonGourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 301

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GOURMONT: DIE INTERNATIONALE KUNST IN PARIS.

schöpfungen, als ästhetische Stilisierungen
sind. Welch weites Feld eröffnet sich da
den Meistern! Bevor man aber an solche
Probleme rührt, wird man vor allem daran-
gehen müssen, die Legionen der Monteure,
Installateure, Ziergärtner und Straßen-
tapezierer, die heute mechanisch wie Stein-
klopfer arbeiten, einem Generalstabe füh-
render Künstler zu unterstellen. »Überall
da, wo man eine schöne Farbe hinzuzu-
setzen hat, braucht man einen Meister der

Malerei« — sagt Ruskin — »und überall
da, wo eine schöne Form angewendet
werden muss, müsste ein Meister der
Bildhauerkunst zu Rathe gezogen werden«.

Vielleicht wird man dann endlich dahin
gelangen, durch festliche Ereignisse die
Kakophonie moderner Gassen in ihrem
Misston nicht verstärkt, sondern erheblich
gemildert und vielleicht gar in Anmuth
hinübergeleitet zu sehen.

DIE INTERNATIONALE KUNST IN PARIS.
NOTIZEN AUS DEM GRAND PALAIS DER WELTAUSSTELLUNG.
Von REMY DE GOURMONT (Paris).
II.
FRANKREICH.

Der französischen Special-Ausstellung, wie
sie sich hier darbietet, gebürt künstlerisch
der erste Rang unter den Sectionen des Palais.
Ich kann hier nur auf die bedeutsamsten und
bekanntesten Künstler eingehen. Der ruhm-
vollste Name der zeitgenössischen Malerei
Frankreichs ist heute Claude Monet. Das ist
ein Mann von Genie und, wie man weiß,
einer der eigenartigsten Landschafter aller
Zeiten und Völker. Seine Fruchtbarkeit grenzt
ans Märchenhafte; und dennoch ist kein
einziges Stück Leinwand aus seinen Händen
hervorgegangen, das die charakteristischen
Eigentümlichkeiten des Meisters verleugnet
hätte. Er ist Impressionist; er ist der Im-
pressionist par excellence. Er bringt die Natur
ohne geflissentliches Arrangement und lediglich
so, wie er sie sieht. Man stelle eine Landschaft
Monets zum Beispiel neben einen Poussin.
Hier: die Regel, die Composition im alten
Sinne, die Effectsuche — moralische Intentionen
mit malerischen gemischt. Dort: die ingeniöse
Aufrichtigkeit des modernen Künstlers, der
die Natur nur in der Form liebt, in der sie
ihm erscheint, und der sie mit unmittelbarer
Gewalt erobern, sozusagen: zur Hingebung
zwingen will. Es gibt Landschaften Monets,
die recht schwer zu erfassen sind; dies aber
nur deshalb, weil sie in wahrheitsgetreuen
Farben lediglich Das wiedergeben, was man
in der Natur, so unwahrscheinlich das auch
sein mag, in gewissen Augenblicken zu sehen
bekommt. Die Landschaften Monets sind gleich-
sam die Natur selbst: es ist an uns, sie
gemäß unserer eigenen Anschauungs-
weise, die wir von den Dingen haben, in

uns selber zu erschaffen. Monet ist das
malerische Genie ϰατ᾽ ἐξοχήν. Er ist Maler,
nur Maler. Zu anderen Künstlern kann man
ihn nicht in Parallele stellen; nur mit der
Natur selbst lässt er sich vergleichen.

Monet steht auf einsamer, sehr entlegener
Höhe. Näher, menschlicher scheint Renoir,
der auch viel leichter zu verstehen und zu
lieben ist. Auch er ein großer Maler, der aber
durch Kunst und Gefühl ersetzt, was ihm an
ursprünglicher Kraft abgeht. Eine Art Verlaine
der Malerei. Gleich bewunderungswürdig scheint
mir Fantin-Latour, ein gleichmäßiges, aber
vielseitiges Talent von sehr beweglicher,
duftiger, romantischer Eigenart. Hier ist auch
der kürzlich verstorbene Degas zu sehen,
der mich in mancher Hinsicht an Mallarmé
erinnert. Degas ist im Bereiche des Pastells
ein Wunder; hat geradezu Nichtdagewesenes
gefunden; hat neue Nuancen geschaffen, die
man nur auf den Flügeln tropischer Schmetter-
linge sieht; hat die Genre-Malerei revolutioniert
— und wurde so der Meister all Jener, die
heute die Sitten ihrer Epoche malen wollen.

Sisley hat uns Landschaften von ex-
quisitester Farbe und lieblichster Wahrheit
gegeben. Pissarro ist gleichfalls ein meister-
licher Landschafter; im ganzen wohl ein wenig
allzu ruhig, aber von einer trefflichen Art, die
Dinge zu sehen. Cézanne macht einen rauhen
und finsteren, Van Gogh (aus holländischem
Geschlecht, aber in Frankreich herangebildet)
einen hellen, phantastischen Eindruck; beide
sind durchaus originale Persönlichkeiten,
deren Namen bleiben werden. Merken wird
man sich ferner: Gauguin, dessen kühne Per-
spectiven verblüffen, Filiger, den man einen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 17, S. 301, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-17_n0301.html)