Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 367

Gedanken vor einem Bilde des Filippo Lippi (Key, Ellen)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 367

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KEY: GEDANKEN VOR EINEM BILDE DES FILIPPO LIPPI.

erhalten konnten, welche die Mitwelt als die
höchsten Ausdrucksformen ihrer Andacht
liebte. Die alten Meister wurden nicht von
dem unruhigen Zweifel der Gegenwart
gequält, ob das Leben wirklich der Kunst
bedarf. Erst seit der Mensch begann, in
der Kunst die Gefahren, Schrecken und
Freuden des menschlichen Lebens auszu-
drücken, grübelt er über die Aufgabe
der Kunst — ein Grübeln, das eine der
Stationen der via dolorosa ist, die zu dem
Siege der neuen Anschauung des Menschen
vom Leben führt, der Anschauung, durch
die er eine ganz neue Stellung im Dasein
und ganz neue Wünsche für sein Dasein
erhalten hat. Aber all diesem noch Un-
klaren und Werdenden hat die Kunst
schon lange Ausdruck zu geben versucht,
bevor die Gedanken zu der Festigkeit
vorgedrungen sind, die der Kunst wie dem
Leben die große Stärke der Berechtigung
verleihen wird und die die Kunst der Alten
so glücklich ruhig machte Je mannig-
faltiger die neuen Räthsel und Forderungen
der Seelen sind, desto mehr muss der
bildenden Kunst — sowie der Literatur
und der Musik — die Ruhe, die Über-
einstimmung zwischen Zielen und Mitteln
fehlen, die jene großen Kunstperioden aus-
zeichnet, welche das höchste Resultat
einer einheitlichen, in sich abgeschlossenen
Cultur-Epoche geworden sind.

Das Stürmische oder Halbfertige, das
Schwebende oder Stillose, das Schwache
oder Gesuchte im Schaffen — sowie im
Handeln — der Jetztzeit zeigt, wie weit wir
gerade jetzt von der großen Selbstüberein-
stimmung entfernt sind, die uns in der
hellenischen Athletenstatue, in dem gothi-
schen Steinheiligen, in Giorgiones »Con-
cert«, wie in Rubens’ »Kirmess« und
Watteaus »Embarquement pour Cythere«,
in Millets »Schafhirten«, wie in Rem-
brandts »Grübelnden Judengreisen« und Bot-
ticellis »Engeln«, in Velasquez’ »Weberin«,
wie in Puvis de Chavannes »Wachender
Genoveva« entgegentritt. Ruhe in sich
selbst, Einheit mit sich selbst ist immer
schwerer zu erreichen — im Leben wie
in der Kunst —, je reicher das persön-
liche Leben, sowie das uns umgebende
Leben sich zusammensetzt.

Die Alten grübelten nicht, sie fühlten
sich gleich ihren Heiligen immer heimisch,

in der Märtyrerkrone, wie in der himm-
lischen Verzückung. Dieser Seelenzustand
hat in der Kunst seinen höchsten Aus-
druck in dem Blick des Jesuskindes im
Arm der Sixtinischen Madonna gefunden.
Dieser Blick saugt das ganze Weltall ein
und beherrscht es mit einer ebenmaß-
erfüllten, nicht zu erschütternden Tief-
sinnigkeit. Die moderne Seele ist ebenso
vollkommen durch einen modernen Künstler,
Goya, geoffenbart, auch im Bilde eines
Kindes, das kaum ein Jahr zählt und mit
seiner kleinen Hand in die Saiten einer
Violine greift. Das zarte Antlitz spiegelt
bei dem Vernehmen der Töne die Un-
ruhe und die Bezauberung wieder, mit
der die Räthsel des Daseins den neuen
Menschen erfüllen, und in den großen
dunklen Augen flammt der Blick auf, der
der unserer Zeit ist: des Fragens und des
Sich-Wunderns

Aber wenn die Menschen nach dieser
Zeit des Fragens wieder zu antworten
beginnen, wenn ihre Herzen in neuen
Heiligthümern gestillt — und erweitert —
werden, dann wird vielleicht die Kunst
wieder gleich der der Alten spiegelnd
klar werden wie ein Quell und doch
gleich der der großen Neuen unerschöpf-
lich tief bleiben wie ein Meer. Wenn
der Durchbruch des Individualismus, der
das Kennzeichen der neuen Lebens-
anschauung, sowie der neuen Kunst ist,
sich wirklich vollzogen hat, wenn der
Individualismus ganz zu einer Lebens-
anschauung ausgeformt worden ist, wenn
Jeder seinen eigenen Weg findet, dann
wird der Künstler mit ebenso gutem Ge-
wissen, wie er früher dem Muster einer
Schule, der Regel eines Meisters folgte,
seiner eigenen Eingebung folgen. Dann
wird der Künstler in dem sicheren Gefühl
des Rechtes auf das Abweichende, das
Unerprobte, wieder die Übereinstimmung
zwischen seinen Zielen und seinen Mitteln
erreichen, durch die er stetig vorwärts-
gehen kann, unter stetem Abweichen nicht
nur von Anderen, sondern auch von sich
selbst. Die Größten unserer Zeit arbeiten
schon in dieser individualistischen Weise,
obgleich unter stetem Verkanntwerden.
Aber wenn Alle individueller entwickelt
sein werden, dann werden auch die
Menschen eine individualistische Kunst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 21, S. 367, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-21_n0367.html)