Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 393

Der vierte internationale Psychologen-Congress Rückblicke auf Paris und die Ausstellung (Deinhard, LudwigSchmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 393

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SCHMITZ: RÜCKBLICKE AUF PARIS UND DIE AUSSTELLUNG.

auch die Geister-Theorie heute noch eine
unbewiesene Hypothese ist. Dürfen wir
nach alledem nicht erwarten, dass viel-
leicht schon der nächste Psychologen-
Congress, der in Rom 1904 abgehalten
werden soll, in dieser Beziehung ein ver-
ändertes Bild zeigen wird? Das Schicksal
der Psychologie des Occultismus auf den
um die Wende des Jahrhunderts abge-
haltenen Psychologen-Congressen würde

sich dann vielleicht folgendermaßen über-
sichtlich darstellen lassen:

1896 (München) als wissenschaftlich
wertloser Aberglaube officiell ausge-
schlossen.

1900 (Paris) Energischer Kampf für
und wider.

1904 (Rom) als wichtiges wissenschaft-
liches Forschungsgebiet officiell anerkannt.

Qui vivra verra!

RÜCKBLICKE AUF PARIS UND DIE AUSSTELLUNG.
Von OSCAR A. H. SCHMITZ (München).

Diese alltäglich gewordene Festlichkeit kann
Einem Paris auf die Dauer unerträglich machen.
Nachdem ich einmal früher längere Zeit hier
gelebt, habe ich drei Jahre ohne jedes Heim-
weh fern von den Boulevards verbracht. Nun
kam ich wieder und ärgerte mich über nichts.
Ich wusste ja, dass hier überall dreimal soviel
Menschen sind, als angenehm wäre; dass es
zwar eine französische Höflichkeit gibt, dass
sie aber nur selten in Anwendung kommt:
dass Kellner und Kutscher Crapule sind, und
alle diese Kleinigkeiten, die der Deutsche da-
heim ein klein bischen besser gewöhnt ist.
Was mich hier immer wieder erstaunt, ist,
dass den Leuten nie der Athem ausgeht. Die
Pariser behaupteten einmal zur Zeit Wilhelms I.,
dass dieser Monarch längst todt sei, dass man
den Berlinern jeden Morgen an dem historischen
Eckfenster nur eine bewegliche Puppe zeigte
und im übrigen das Land von den Ministern
und ihren Frauen regiert würde. Solange
die Leute ihren Kaiser lebendig glaubten,
gienge es auch ohne ihn. So scheint es mir
mit der französischen Cultur zu sein. Die
letzten großen Schaffenden sind todt oder alt;
von der jungen Generation scheint man nicht
viel mehr zu erwarten, als Witze und Zierraten.
Aber hinter dem großen historischen Fenster
zeigt man den Franzosen bisweilen eine ge-
schickt drapierte Puppe, von der man nicht
recht weiß, ob sie eigentlich lebt oder nicht.
Immerhin sieht man etwas, man kann jubeln
oder verfluchen, das Leben geht in wechselnden
Formen weiter und noch auf Jahrzehnte hinaus
wird Paris für den geistig Arbeitenden der
erträglichste Aufenthalt der Erde bleiben.
Natürlich schreitet die Amerikanisierung — man
möchte fast glauben, auch die Germanisierung
— langsam fort. Die Franzosen sind augen-
blicklich von Händlern regiert und doch gibt
es noch ganze Stadtviertel, denen das geistige
Leben völlig seinen Stempel aufgedrückt hat,

wo der bürgerliche Prunk der großen Boule-
vards und der Friedrichstraße durchaus fehlt,
wo hingegen die Qualität der Angebote zu
den Preisen in weit günstigerem Verhältnis
steht. Besonders verrathen die kleinen Damen
des linken Ufers ein wesentlich feineres ero-
tisches Verlangen der männlichen Bevölkerung.
Es ist zwar üblich, zu zetern, die Grisette sei
todt. Das kann ich durchaus nicht glauben.
Nur scheint mir die Nachfrage nach ihr gering.
Ich glaube, wenn sich der sentimental-roman-
tische Jüngling fände, der sich auf Jahre an
so ein einfaches, gutartiges Geschöpf ketten
möchte, das ein bischen hübsch ist, mit dem er
zur Zeit des Flieders nach St. Cloud fährt
und auf dem Heimwege Lieder von Beranger
(nicht dem Senator) singt, dann würde für ihn
auch unter den kleinen Wäscherinnen und
Näherinnen manche zu finden sein, die solche
Freuden theilen möchte. Aber die jungen Leute
wollen ja heute gar keine Grisetten mehr. Die
Grisette ist ihnen wie ein Kleid, das die Ge-
liebte an manchen Tagen tragen soll, morgen
aber muss sie wieder so madonnenhaft oder so
launisch, so verrückt oder so ahnungsvoll sein,
als es unsere Nerven verlangen. In vier, fünf
Stunden den ganzen Duft, die Poesie einer
Grisetten-Liebe zusammendrängen, wie in ein
straff begrenztes Sonett, aber keinen langen,
rührseligen Roman so wollen sie es nun
einmal. Die Mädchen wissen das und sie
sind zu intelligent, um sich morgen wegwerfen
zu lassen. Entweder arbeiten sie und heiraten
später oder sie geben sich dem männlichen
Geschlecht, das als Ganzes für ihre Erhaltung
zu sorgen hat — wobei übrigens sehr liebens-
würdige Leute, wie ich höre, doch viel besser
wegkommen sollen, als sehr reiche und sehr
ernsthafte.

Von der Ausstellung merkt man auf dem
linken Ufer so gut wie nichts, während das
übrige Paris von den Fremden ganz und gar

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 393, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-22_n0393.html)