|
In meinen Träumen sah ich oft Levana
und erkannte sie an ihren römischen Sym-
bolen — sie, die lateinische Göttin, die
eines jeden Kindes erste Stunde überwachte
und ihm erst Menschenwert und Würdig-
keit verlieh.
War ein Kind zur Welt geboren und
sog zum erstenmale der Erde unruhvolle
Luft, so legte man es auf den Boden
nieder. Doch nur für einen kurzen Augen-
blick. Dann hob der Vater als Vasall der
Göttin das neue Wesen hoch empor, hieß
es, als Herrscher dieser Welt hinabzu-
blicken, bog seine Stirn den Sternen zu
und sagte still zu diesen: »Sehet hier, was
größer ist als ihr!«
Und diese kurze Handlung war das
Sinnbild für Levanas langes Wirken. Sie
führt die Erdbeklommenen den Herrscher-
höhen zu, und alle ihre Pfade gehen durch
das Labyrinth des Schmerzes. Denn sie
ist unerbittlich hart, die gute Hüterin.
Und die drei Göttinnen, die ihrem Zweck
zu dienen sie erwählt, sind Unsere Lieben
Frauen von der Traurigkeit.
Ich habe sie oft in meinen Träumen
mit Levana, ihrer Herrin, reden sehen.
Und manchmal sprachen sie auch mit
mir. Oder nein — sie sprachen nicht,
denn sie verschmähen die Unzulänglich-
keit der Sprache. Wenn sie in einem
Menschen wohnen, so können sie durch
seine Seele Worte reden. Doch unterein-
ander bedienen sie sich keiner Sprache,
geben sie keinen Laut von sich, und
ewiges Schweigen herrscht in ihren Reichen.
Die älteste der drei Schwestern nennt
sich Mater Lachrymarum: Unsere Liebe
Frau der Thränen.
Sie ist es, die Tag und Nacht umher-
streift und seufzt und erloschene Gesichte
anruft. Sie war es, die über Rama schwebte,
|
da man eine Stimme klagen hörte, Rachels
Stimme, die ihre Kinder beweinte und
nicht getröstet sein wollte. Sie war in
Bethlehem in der Nacht, da das Schwert
des Herodes alle Unmündigen aus ihren
Hütten riss
Ihre Augen sind sanft und durch-
dringend, starren oft erschreckt ins End-
lose, senken sich wie schlafverloren zu
Boden, schreien anklagend zum Himmel
empor. Auf ihrem Haupte lastet ein
Diadem. Und ich weiß aus den Er-
innerungen meiner Kindheit, dass sie auf
den Winden segeln kann, wenn die
Seufzer der Litaneien, der Donner der
Orgeln sie ruft und Noth und Gefahr
vom Himmel stürzt. An ihrem Gürtel
hängen Schlüssel, die mächtiger sind, als
die der päpstlichen Allmacht, die jede
Hütte, jedes Schlossthor öffnen. Ich
weiß, sie war es, die den ganzen Sommer
lang nicht von dem armen Lager des
blinden Bettlers wich, mit dem ich gerne
stiller Rede pflegte, und dessen frommes
Töchterchen mit dem achtjährigen leuch-
tenden Gesicht des Dorfes Lust und
Spiele mied, um ihm zu dienen, ihn auf
staubbedeckten, steinrauhen Wegen sicher
zu geleiten. Gott hat sie dafür reich
belohnt. Im Frühling, als sie selbst zu
blühen begann, gesellte er sie seinen
Engeln zu. Ihr blinder Vater weint noch
jetzt um sie und träumt noch jede Mitter-
nacht, dass er die kleine Hand, die Licht
und Glück ihm war, ruhen fühlt in der seinen;
und das Erwachen bringt ihm jetzt zwei-
fach bittere Finsternis. Ihr Schlüssel
öffnet Unserer Lieben Frau der Thränen
die Kammer aller Männer, die nicht
schlafen, aller Weiber, die nicht schlafen,
aller Kinder, die nicht schlafen, vom
Ganges bis zum Nil, vom Nil bis zum
Mississippi. Und da sie die Erstgeborene
|