Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 395

Rückblicke auf Paris und die Ausstellung (Schmitz, Oscar A. H.)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 395

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SCHMITZ: RÜCKBLICKE AUF PARIS UND DIE AUSSTELLUNG.

wie »Die Cameliendame« oder «The mystery
of a handsome cap«. Im Dunkeln werden Leute
umgebracht, obendrein nicht einmal die rechten,
und derlei wilde, aufgeregte Sachen mehr.
Aber alles das ist nur Vorwand, um ein un-
geheueres Leben in Linie und Farbe zu ent-
fesseln. Gruppen, wie wir sie aus den japa-
nischen Drucken kennen, stehen groß, bizarr,
fieberhaft vor uns und wie eine melodrama-
tische Begleitung fallen die verschiedenfarbig-
sten Beleuchtungen auf die Handlung — bald
langsam, leise anschwellend oder verblassend,
wie das Mittönen von Saiten-Instrumenten, dann
plötzlich abbrechend; wie grelle Posaunen-
stöße setzen heftige, bunte Lichter ein und
lösen Überraschungen aus, die an enharmo-
nische Verwechslungen erinnern; dazu kommt
ein so abgestuftes Mienenspiel, dass wir die
ganze Handlung errathen, ohne die Worte zu
verstehen, die bald voll Zärtlichkeit, bald voll
eiskalter Furchtbarkeit sein müssen. Man
kann diese mysteriösen Wirkungen wahrhaftig
nur mit der außerstofflichen Musik vergleichen.
Ich denke mir, ähnlich müssen unsere Töne
auf einen feinen Japaner wirken, der das
Schöne und Tragische vorzugsweise durch die
Augen aufzunehmen gewohnt ist und nun
plötzlich ähnliche Empfindungsinhalte durch
das Gehör einlassen soll, das bei ihm an viel
einfachere Reize gewöhnt ist. So vernehmen
wir hier ganz allgemein menschliche Empfin-
dungen, nur in ganz ungewohnter Weise, die
uns fast unnatürlich, grausam, gewaltsam vor-
kommt, so dass man nach der Vorstellung, die
eine halbe Stunde dauert, erschöpfter ist, als
nach einer Wagner’schen Oper. Unsere
Schwerpunkte sind verschoben. Man meint im
Hirn zu fühlen, was man sonst in der Herz-
gegend empfindet, und im Herzen hat man
Schauer, wie man sie bisweilen über den
Rücken laufen spürt. Ästhetiker werfen den
Japanern vielleicht Effecthaschereien vor.
Paarung engstilisierender Synthesen mit den
naturalistischesten Einzelheiten. Alle solche Ur-
theile gehen von dem Standpunkt aus, eine
seelische Entwicklung fordern zu müssen, die
wir vorzugsweise aus dem gesprochenen Worte
erfahren. Man lasse doch diese Voreinge-
nommenheiten beiseite, setze an die Stelle des
Akustischen das Optische und man wird die
häufige Einschiebung von Tänzen nicht mehr
nach der psychologischen Unmöglichkeit beur-
theilen, sondern danach, ob das Auge in
diesem Augenblick des farbigen Geschehens
einen Tanz sehen will. Von diesem Stand-
punkt aus sind die Tänze mit einem so raffi-
nierten Taktgefühl eingeschoben, wie bei
Shakespeare die komischen Scenen, die mit
der Handlung psychologisch kaum zusammen-
hängen, sondern nur zwischen tragischen Span-
nungen aus dem momentanen Nervenbedürfnis
nach Komik hervorgehen. Und doch ist das
alles nicht im geringsten äußerlich, ballet-
mäßig, sondern im besten Sinne panto-
mimisch. Wir erleben etwas tiefwarm Mensch-

liches, an dem — fast griechisch — wie ein
Chor die Nebenspieler theilnehmen, auf deren
Mienen wir oft das hinter der Scene Spielende
lesen müssen — Krämpfe und Begeisterungen —;
wir erleben das hinter dem Gesicht liegende
Gesicht, wie es manche Maler, vielleicht
Munch, ahnen, vielleicht Odilon Redon. Nach
dieser Vorstellung wird das Höchste geboten,
was die europäische reine Augencultur bis
jetzt leistet: die Tänze der Loïe Fuller. Aber
gegenüber den tragischen Erregungen der
Japanerin wirken diese Farben und Formen nur
decorativ, ornamental. Es gelingt ihr nicht,
tiefst Lebendiges in Linie und Licht zu proji-
cieren. Wir Europäer haben dazu doch wohl
stets Worte und Gegenstände nöthig.* Die
Augen, die sich an Velasquez und Rembrandt
müde gesehen haben, ruhen sich vor den
sanften Tönen eines Teppichs aus, der nur den
Sinnen schmeichelt, sie beruhigt, vielleicht
auch entzückt, aber nicht viel vom Leben ver-
räth. So ist Loïe Fuller: anziehend, fesselnd, doch
kalt. Man vergisst sie und sieht sie gern wieder.
Ihre Tänze sind parnassische Sonetten, die von
vorneherein nichts als Form geben wollen.

Bei den Deutschen, welche die Welt mit
Musik versorgen, wird das japanische Schau-
spiel wohl am schwersten Freunde finden. Die
Franzosen und die ganz unmusikalischen Eng-
länder sind durch ihre große Malerei damit
vertrauter. Unsere Augencultur steht im selben
Maße hinter der anderer Völker zurück, als wir
sie alle an musikalischer Cultur übertreffen.
Wir sind das einzige Volk, das sich principiell
schlecht kleidet und einrichtet (in anderen
Ländern laufen die Geschmacklosigkeiten nur
so nebenbei unter), wir sind aber auch das
einzige Volk, das einen principiellen Unter-
schied zwischen guter und nicht so ganz einwand-
freier Musik macht. Wir lassen nicht einmal
Verdi, kaum Bizet in den Concertsaal, während
sie uns im Theater gefallen. Und wir wissen,
warum wir das thun. Die Franzosen werfen
im allgemeinen noch Massenet und Beethoven
in denselben Topf. Sie haben indes seit dem
Kriege ihre musikalische Cultur unendlich ver-
tieft und erweitert. Wagner hat Bach und
Beethoven gewissermaßen als Contrebande
eingeschmuggelt. Wir indes können — wie
schon so oft gesagt wurde — von ihnen das
Sehen lernen. Sollten deutsche Kunstschrift-
steller nicht allmählich aufhören, selbst Rodin
nach dem zu beurtheilen, »was man sich dabei
denken kann?« Ein ganz bekannter Kritiker,
der seit vielen Jahren in Paris lebt, schilderte
kürzlich die Gruppe »l’idôle éternel« in einem
beliebten Blatte. Ein Jüngling küsst eine schöne
kühle Frau, vor der er kniet, inbrünstig unter-
halb der Brust, »da, wo das Herz liegt,« schreibt
der Deutsche. Sollte — abgesehen davon, dass
die Geste den Künstler reizte — dieser sonder-
bare Jüngling nicht doch einen anderen plau-
sibleren Grund haben, als die anatomische Herz-
nähe, seine Geliebte gerade dahin zu küssen?
Vielleicht hatte Herr Gensel doch recht, in päda-

* Das japanische Theater hat ja auch Klänge und Gegenstände; sie sind uns aber, wie oben gezeigt, eher ein
Hindernis im Genuss. Die unverständliche Sprache kommt für uns überhaupt nicht in Betracht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 22, S. 395, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-22_n0395.html)