Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 411

Multatuli Der Abbé Galiani (Schlaf, JohannesKassner, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 411

Text

KASSNER: DER ABBÉ GALIANI.

ländischen Colonialverwaltung gemisshandelt
werden. Da sind ferner vor allem die rührendsten
Berichte über ein Familienleben, das die
innigste und lauterste Liebe in allen Nöthen
zusammenhält. Da ist Selbstentsagung, der
herrlichste Edelmuth im Bereich jenes Conflicts,
in dem sich Multatulis Fühlen damals zwischen
Tine und Mimi befand: bei allen Schwierig-
keiten einer solchen Lage bestand dennoch
eine herzliche Freundschaft, ein intimes Ein-
vernehmen zwischen diesen drei Personen;
und drei Charaktere schauen zwischen diesen
Zeilen hervor, besonders aber zwei Frauen,
wie sie edler, vornehmer und feinfühliger
nicht gedacht werden können

Das also ist Multatulis Werk, und das ist
er selbst. Er sagte einmal — es ist so
eine Art Leitmotiv von ihm —: »Ich
will eine fröhliche Botschaft niedersenden
auf die kleine Erde. Ich will den armen
Menschen, die da so verdrossen und liebelos
zurückblieben, sagen, dass Genuss Tugend
ist, und dass nichts mehr Genuss gibt, als
die Liebe«. Das ist in kurzem seine ganze
Ethik. Wir sehen: Wenn wir viele unserer
großen Ethiker bewundern — Multatuli
ist einer der Wenigen, die wir lieben
müssen.

DER ABBÉ GALIANI.
Von RUDOLF KASSNER (Paris).

Possible que j’aie eu tant d’esprit!

Er über sich selbst.

Abbé Galiani war sehr eitel, doch
mochte es ihm nicht einmal geträumt
haben, dass ein großer Mensch einer
späteren Zeit ihn den tiefsten Geist seiner
Zeit nennen würde. Ich weiß nicht, ob
Nietzsches Urtheil gerecht ist; Nietzsche
brauchte Galiani, und darum erhob er ihn.
Ich weiß nur, dass Galianis Geist anders
war, als der seiner Freunde in Paris, und
nur mit diesen darf er verglichen werden.
Denn dass Galiani nach Paris kam, ist
das einzige Ereignis seines Lebens, und
dass er nach zehn Jahren Paris wieder
verlassen musste, ist ein einziges Ereignis
für die Literatur des XVIII. Jahrhunderts.
Wir haben die Briefe*, die er seinen
Freunden schrieb, und in ihnen, und fast
nur in ihnen, seinen Geist.

Galiani war Abbé; das hieß damals
soviel wie alles und nichts. In seiner Jugend,
die er in seiner Geburtsstadt Neapel ver-
lebte, schrieb er Farcen, Abhandlungen über
Horaz, den Vesuv; er stand mit vielen
Gelehrten seiner Zeit in Briefwechsel;
später gab er sich mit Nationalökonomie
ab und schrieb seine »Dialogues sur le

commerce du blé«. »Vers 1750, sagt
irgendwo Voltaire: la nationa rassasié
de vers, de tragédies, de comédies, de
romans, d’histoires romanesques et de
disputes sur la grâce et les convulsions,
se mit à raisonner sur les blés«. Aber
Galianis Dialoge scheinen Aufsehen erregt
zu haben; ein anderer Abbé musste im
Namen des Königs erwidern, und später
wurden sie sogar verboten. Doch das ist
alles noch nicht Galianis Geist.

»On me dit, qu’il a beaucoup d’esprit«,
sagte Ludwig XV. nach der ersten Audienz,
die er Galiani, der als Secretär der Ge-
sandtschaft vom Hofe Neapels zugetheilt
wurde, zu Einem aus der Umgebung, und
dieses Wort wurde in Paris schnell bekannt
und öffnete dem Abbé die Salons. Drei
von diesen waren damals berühmt: der
Salon der Madame d’Epinay, der Freundin
Rousseaus und Grimms, dieser geistvollsten
»Schwester aus der philosophischen Ge-
meinde«, wie man die Freundinnen der
Philosophen damals nannte; der Salon
der de Lespinasse, der Freundin d’Alemberts,
die ebensoviel Liebe zur Vernunft, als

* Die »Insel« (1. und 2. Heft, I. Jahrgang) hat Auszüge aus Galianis Briefen gebracht,
die Jedem, den dieser Geist interessiert, vollständig genügen können.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 411, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0411.html)