Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 412

Der Abbé Galiani (Kassner, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 412

Text

KASSNER: DER ABBÉ GALIANI.

Thorheit für die Liebe besaß, »die große
Synagoge« endlich, wie der Salon Hobachs
hieß, dieses flachsten Gesellen unter den
Predigern, Patriarchen und Jesuiten der
Vernunft. Hier verkehrte Galiani, und
hier begründete er seinen Ruf, der beste
Causeur von Paris zu sein. Man muss die
Berichte seiner Freunde über ihn lesen,
um seine Erscheinung in den Salons zu
würdigen.

Er war klein, beinahe ein Zwerg,
mager und agil wie ein Polichinell. Kaum,
dass er die Gäste begrüßt hatte, verlor
er sich unter ihnen, suchte sich einen
Schemel in der Nähe des Kamins, nahm
die Perücke, die er gewöhnlich schief
wie eine Narrenkappe trug, ab, und seine
kleinen, klugen Augen beobachteten. Traf
ihn irgendein Wort, so trat er vor und
begann zu sprechen. Er sprach oft zwei
Stunden lang, und Alle horchten, und
niemand unterbrach ihn. »Mais son rôle
joué«, sagt Marmontel, »il n’était plus
rien dans la société«. Traurig und stumm
gieng er in seine Ecke, und es schien,
als wartete er nur auf das Stichwort,
das ihn wieder auf die Scene rief. Er
räsonnierte nicht, wie die Anderen, er
erzählte kleine Geschichten. Man verstand
damals alles und vergaß wieder alles, und
das scheint der italienische Polichinell bald
gemerkt zu haben, und darum erzählte er
gerne Geschichten. Es ist doch komisch,
von Tugend und Vernunft zu sprechen und
dabei ein so schlechtes Gedächtnis zu
haben. Er mag seine Zuhörer wie Kinder an-
gesehen haben, die thöricht und zum Spiele
die Kleider von Erwachsenen anziehen,
und wenn er sprach, so vergaßen sie die
schweren Kleider und großen Worte. Wo
ist da der Polichinell? Galianis Geist war
anders, als der seiner Freunde. Galiani
war allen den großen und kleinen Philo-
sophen fremd. Er hatte viel Stil, schon
darum! Sein Geist fühlte sich bedingt,
bedingt von der Leidenschaft, von allem
Möglichen, das ihn stumm und traurig
machte, und worüber er nur lachte, wenn
man ihn darum fragte. Der Geist der
großen und kleinen Philosophen war
absolut, war nichts anderes, als Geist,
Geist auf alle Fälle, und verpflichtete
höchstens zur Vernunft, und von Vernunft
spricht ein Polichinell niemals.

Ich sprach von der Leidenschaft, die
Galianis Geist bedingte. Das ist gewagt.
Galiani war nur unanständig; nicht frivol,
das war damals Jeder, aber unanständig,
beinahe gemein, ein Bock oder ein Affe,
wie Nietzsche sagt. Er hatte keine kleinen
Intriguen und Abenteuer, er liebte nicht,
und wäre es auch nur für einen Tag
gewesen, er log sich und den Anderen nichts
vor, er war — wenn ich so sagen darf —
leidenschaftlich unanständig, schamlos, und
darum war, wenn er in die Gesellschaft
gieng, alles an ihm, was nicht Geist war,
wie das Kleid eines Harlekins, das er um
seine Schamlosigkeit warf. Und diese
Leidenschaft bedingte seinen Geist, und
darum hatte er mehr Stil, als die Anderen.

»Sein Körper war der eines Harlekins«,
sagt Marmontel, »aber auf ihm trug er den
Kopf eines Macchiavelli«, beeilt er sich
hinzuzufügen. Man nannte ihn auch all-
gemein Macchiavellino. Nun zunächst,
Galiani war Italiener, und er war es mehr,
als er es wusste oder wollte und sein
schönes Französisch es verrieth. Die Be-
griffe der großen und kleinen Philosophen
waren ihm fremd, er hatte überhaupt
keine Begriffe. Und darum ist er so
modern, und man vergisst seine Sätze
nicht. Wer hat denn heute noch für die
Tautologien des XVIII. Jahrhunderts ein
Gedächtnis? Der Geist dieser Menschen be-
wegte sich in einem Cirkel; er kam immer
bei denselben Begriffen an, von denen er
ausgegangen war. Er bewies, und jeder
Beweis ist schließlich eine Tautologie.
Galianis Geist war eine Energie und nichts
weiter. Die Anderen ordneten, er schuf;
die Anderen hatten Geist, trotzdem sie
unvernünftig waren; Galiani hatte Geist,
weil er unvernünftig war. Der Anderen
Ideal war die Vernunft, und ihr Leben
eine Folge von manierlichen und un-
manierlichen Intriguen. Im Ganzen schufen
sie Großes, im Kleinen waren sie ver-
logen. Galiani aber war Komödiant; darin
liegt seine Überlegenheit. Er ist auf-
richtiger als die Anderen. Er besitzt nicht
die große und einfache Aufrichtigkeit
Macchiavellis, er lebte zweihundert Jahre
später, und da es lächerlich wäre, kurz
vor der Revolution die Ideen des Principe
vorzutragen, so nahm er sich komisch.
Das ist in letzter Folge nur Stilgefühl,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 412, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0412.html)