Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 413

Der Abbé Galiani (Kassner, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 413

Text

KASSNER: DER ABBÉ GALIANI.

aber ich sagte schon, Galiani war Künstler,
und ich werde das noch einigemale wieder-
holen müssen.

Galiani hatte keine Begriffe, das
heißt, er ließ sich nicht von Begriffen
leiten, er fand sie. Und doch bewegen
gleichsam seine Dialectik zwei Begriffe,
ohne dass er sie nennt: der Begriff der virtù
und der der fortuna. Sie sind das Erbe
seines Lehrers Macchiavelli, und über seine
Philosophie könnte man die Worte schreiben,
die dieser über das 25. Capitel seines
Principe setzte: »Quanto possa nelle umane
cose la fortuna e in che modo si gli possa
ostare«. Nur eigenartig vergeistigt, in echtem
Wortsinne theoretisch sind sie bei Galiani,
wie etwa das Motiv eines griechischen
Vasenbildes in einer Ode Keats’ theore-
tisch geworden ist. Für das XVIII. Jahr-
hundert war die große virtù des Menschen
die Vernunft. Man lasse sich nicht irre-
führen; der Egoismus des Helvetius ist
auch nur ein anderer Ausdruck dafür.
Das Urbild des Menschen war der »Adam
der Vernunft«, wie Taine es einmal
nennt, jener Begriff Mensch, der übrig
bleibt, wenn man irgendeinen lebendigen
Menschen seiner Sitten, Vorurtheile, seiner
Cultur überhaupt entkleidet hat. Für
Galiani ist die Tugend des Menschen der
Instinct, die Rasse, alles, was am Menschen
lebendig ist. Die Vernunft ist eine virtù,
die sich selbst jeder Möglichkeit einer for-
tuna beraubt hat, die Rasse ist die virtù,
die sich an jeder Möglichkeit einer fortuna
stärkt. Ja, die Möglichkeiten der fortuna
sind des Menschen eigenste virtù, fortuna
ist nichts als potentielle virtù und virtù
virtuelle fortuna — ich übersetze ab-
sichtlich die beiden Ausdrücke nicht, virtù
heißt ebensowenig Tugend, wie Pathos
Leiden. Wenn nun Galiani behauptet, des
Menschen Erziehung sei sein Instinct, so
sagt er dasselbe. Der vernünftige Mensch
wäre für ihn jener, dessen virtù die fortuna
erschöpft hat. Die Vernunft ist für ihn ein
Ende und kein Anfang, die Erziehung ein
Selbst-Erproben, ein Lebendigmachen der
Instincte. Wie muss er nicht Nietzsche
gefallen haben, und wie weit hat er sich
nicht von seinen Zeitgenossen entfernt,
wenn er schreibt: »Toute la morale est un
instinct, mon cher ami, et ce n’est pas
l’effet de l’éducation qui change, altère ou

contraire la nature; les sots se l’imagi-
nent; tout est au contraire l’effet de la
nature même, qui nous indique et nous
pousse à donner cette éducation qui n’en
est que le développement«. (Dialogue sur
les femmes.)

Galiani ist nicht Moralist im Sinne
Voltaires, Fontenelles, Helvetius’ oder
Duclos’, er ist Künstler; von allen französi-
schen Philosophen ist ihm nur Vauvenar-
gues verwandt, dieser einzige Jüngling
unter den vielen alten Junggesellen. Galiani
fragt nicht, was in uns Geist und was
Materie, was Natur und was Cultur ist,
sein Geist kennt zunächst nur eine That-
sache, und die einzige Thatsache seines
Geistes ist das Leben. »Il faut vivre avec
ses maux. Le problème est de vivre et
pas de guérir.« Welch großer Glaube
liegt nicht in dem Satze, möchte und
muss man auch sagen, trotz Galiani, und
wie gut verträgt er sich nicht mit einer
Maxime des ungleich edleren Vauvenargues:
»Le vice fomente la guerre, la vertu combat.
S’il n’y avait aucune vertu, nous aurions
toujours la paix!« Galiani fragt auch nicht,
was gut und böse ist, er fragt, ob etwas
genug virtù hat, um fortuna zu haben,
er zerlegt alles Lebendige in Das, was in
ihm virtù und Das, was fortuna ist. »Cela
me prouve«, sagt er vom Helden, »que
l’heroisme consiste dans une opiniâtreté
de notre part combinée avec les hasards
heureux«. Das ist seine Auffassung des
Helden. Sie ist zunächst nicht sentimental
und dann auch nicht nordisch. Der Fata-
lismus, den wir mit der Idee des Helden
zu verbinden pflegen, ist für ihn ein Be-
griff der Barbaren, und ich würde in
seinem Geiste sprechen, wenn ich sagte:
Das Schicksal ist nur ein sentimentaler
Zufall, wie die Vernunft nur eine senti-
mentale Klugheit ist. Uns klingt das
cynisch, aber der Cynismus ist hier, wie
so oft, nur die Oberfläche eines sehr tief
liegenden und fest wurzelnden Gefühles,
des Gefühles: Ich will das Leben seiner
Zufälle und damit mich selbst des Lebens
nicht berauben. Ich kann hier nicht unter-
suchen, wie unendlich groß der Unter-
schied zwischen der nordischen Schicksals-
Idee und dem »Fatalismus der Barbaren«
ist. Galiani kannte ihn ebensowenig,
wie seine Zeit. Zum Verständnis von

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 413, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0413.html)