Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 415

Der Abbé Galiani Eine erste Symphonie* (Kassner, RudolfGraf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 415

Text

EINE ERSTE SYMPHONIE.

seine Zeit hat gegen ihn Unrecht gehabt.
Aber wo ist das Recht und wo das Un-
recht? Illusionen sind im Spiegel, was der
Enthusiasmus im Leben ist, aber was sind
alle Spiegel gegen ein einziges Leben?
Nur Spiegel! Und wenn das Recht der
Spiegel weise ist, so ist das Unrecht des
Lebens göttlich. Und ich muss hier einen
tiefen Satz Galianis citieren, den tiefsten,
der im XVIII. Jahrhundert französisch ge-
schrieben wurde: »La morale s’est con-
servée parmi les hommes, parce qu’on en
avait parlé, et jamais didactiquement,
toujours éloquemment ou poëtiquement.
D’abord que les Jésuites s’avisèrent, de la
réduire en système, il la défigurèrent hor-
riblement. En effet la vertu est un enthou-
siasme«. Die Tugend ist ein Enthusiasmus;
nun diese Tugend besaß der Abbé nicht.
Aber ein Anderer besaß sie. Galiani hat
Rousseau in Paris nicht kennen gelernt.
Rousseau hatte die Ermitage schon ver-
lassen und sich von seinen Freunden los-
gesagt, als Galiani nach Paris kam. Es
hätte ein eigenes Schauspiel sein müssen,

die beiden Männer im Salon nebeneinander
zu sehen. Sie wären die einzigen starken
Gegensätze gewesen, die das geistige Paris
von 1760 hätte aufweisen können. Rous-
seaus Herz war groß genug, um ein
Schicksal zu messen, aber er war verlogen;
seine Psychologie war die von Lakaien
und von Weibern, die man braucht; seine
Laster heimlich, verschämt, unglücklich.
Galiani war von Natur aus schmutzig,
seine Psychologie war frei und über seine
Zeit hinwegblickend; dem Schicksal hielt
er eine Maske vor. Ihm aber fehlte der
Enthusiasmus, und diesen besaß Rousseau.
Und darum hat dieser über mehr als hundert
Jahre von allen Geistern den größten
Einfluss auf die Gefühle der Mensch-
heit gehabt, während es von Jenem nur
einige Briefe gibt, die Wenige lesen. Und
merkwürdig, Galiani ist eigentlich erst
durch Nietzsche wieder lebendig geworden,
durch Nietzsche, der Rousseau den letzten
Stoß, vielleicht den Todesstoß gegeben
hat. Aber das gibt noch immer nicht
Galiani die virtù, die er nur erkannte.

EINE ERSTE SYMPHONIE.

Jede Jahreszeit hat ihre eigene Frucht;
jedes Lebensalter sein eigenes Kunstwerk.
Dort ist eines, aus der Kraft und Energie
der Männlichkeit geschaffen, das in den
Tagen der Reife als Höchstes gilt; hier
eines, das, von den wirren und heftigen
Instincten der Jugend getrieben, auf die
Seele der Jungen wirkt. Jenes gilt in den
Tagen der Liebe als schönster, echtester,
wahrster Ausdruck des Empfindens. Dieses
wiederum bezaubert traurige, sehnsüchtige
Naturen. Im Wandel des Lebens wechseln
auch die Kunstwerke, welche in uns innere
Resonanz finden. Manches, das noch vor
kurzem unser Inneres ausgeschöpft hat, entgleitet
uns, wird fremder; kaum, dass wir es noch
verstehen, bis wir eines Tages fühlen, dass es uns
ganz verloren gegangen ist. Classische Kunst-
werke nennen wir jene, die uns das ganze
Leben hindurch begleiten und in jedem neuen
Entwicklungs-Stadium neuen Sinn und neue
Bedeutung gewinnen.

So ist es auch in der Musik. Mozart ist
kindlich mit dem Kinde, jugendlich mit dem
Jüngling, männlich mit dem Manne, weise,
reif und abgeklärt mit dem Greise. Brahms
öffnet sich nur dem Manne ganz, der vieles

erduldet und seine Innerlichkeit zu verbergen
und zu beherrschen gelernt hat. Mit der Sym-
phonie phantastique von Berlioz wird jede neue
Generation von Jünglingen aufs neue schwärmen,
leiden, mitfühlen. Auch in der Musik schreiten
wir durch einen Kreis von Werken hindurch,
die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Be-
deutung gewinnen.

Gustav Mahlers Erste Symphonie (in D-dur),
welche das Publicum der philharmonischen
Concerte zu Taktlosigkeiten ärgster Art auf-
gereizt hat, ist — gleich der Symphonie phan-
tastique — aus Stürmen, Krisen und seelischen
Katastrophen der Jugend heraus geschrieben
und darf darauf rechnen, von der jungen
Generation unserer Zeit empfunden und ver-
standen zu werden. Nur von dieser darf der
Componist verlangen, dass sie die crassen
Stimmungswechsel zwischen Lyrik. Parodie
und Pathos — dank ihrer eigenen inneren
Bewegtheit und Beweglichkeit — zusammen-
fasse und das Werk trotz aller Contraste
einheitlich empfinde. Nur von dieser darf
er es verlangen, dass sie die starke Stim-
mungsschwelgerei, das Behagen am intensiv
gefärbten Klang, die Ekstase in der Leiden-
schaft nachfühle. Nur von ihr darf er eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 415, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0415.html)