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Jede Jahreszeit hat ihre eigene Frucht;
jedes Lebensalter sein eigenes Kunstwerk.
Dort ist eines, aus der Kraft und Energie
der Männlichkeit geschaffen, das in den
Tagen der Reife als Höchstes gilt; hier
eines, das, von den wirren und heftigen
Instincten der Jugend getrieben, auf die
Seele der Jungen wirkt. Jenes gilt in den
Tagen der Liebe als schönster, echtester,
wahrster Ausdruck des Empfindens. Dieses
wiederum bezaubert traurige, sehnsüchtige
Naturen. Im Wandel des Lebens wechseln
auch die Kunstwerke, welche in uns innere
Resonanz finden. Manches, das noch vor
kurzem unser Inneres ausgeschöpft hat, entgleitet
uns, wird fremder; kaum, dass wir es noch
verstehen, bis wir eines Tages fühlen, dass es uns
ganz verloren gegangen ist. Classische Kunst-
werke nennen wir jene, die uns das ganze
Leben hindurch begleiten und in jedem neuen
Entwicklungs-Stadium neuen Sinn und neue
Bedeutung gewinnen.
So ist es auch in der Musik. Mozart ist
kindlich mit dem Kinde, jugendlich mit dem
Jüngling, männlich mit dem Manne, weise,
reif und abgeklärt mit dem Greise. Brahms
öffnet sich nur dem Manne ganz, der vieles
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erduldet und seine Innerlichkeit zu verbergen
und zu beherrschen gelernt hat. Mit der Sym-
phonie phantastique von Berlioz wird jede neue
Generation von Jünglingen aufs neue schwärmen,
leiden, mitfühlen. Auch in der Musik schreiten
wir durch einen Kreis von Werken hindurch,
die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Be-
deutung gewinnen.
Gustav Mahlers Erste Symphonie (in D-dur),
welche das Publicum der philharmonischen
Concerte zu Taktlosigkeiten ärgster Art auf-
gereizt hat, ist — gleich der Symphonie phan-
tastique — aus Stürmen, Krisen und seelischen
Katastrophen der Jugend heraus geschrieben
und darf darauf rechnen, von der jungen
Generation unserer Zeit empfunden und ver-
standen zu werden. Nur von dieser darf der
Componist verlangen, dass sie die crassen
Stimmungswechsel zwischen Lyrik. Parodie
und Pathos — dank ihrer eigenen inneren
Bewegtheit und Beweglichkeit — zusammen-
fasse und das Werk trotz aller Contraste
einheitlich empfinde. Nur von dieser darf
er es verlangen, dass sie die starke Stim-
mungsschwelgerei, das Behagen am intensiv
gefärbten Klang, die Ekstase in der Leiden-
schaft nachfühle. Nur von ihr darf er eine
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