Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 416

Eine erste Symphonie* Hof-Operntheater: »Der Bundschuh« (Graf, MaxGraf, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 416

Text

THEATER.

Freude an der Parodie der Gefühle, am Ver-
zerren heiliger Empfindungen verlangen. Ich
stehe dieser Generation viel zu nahe, um
mich in das Werk nicht wie in ein eigenes
einzufühlen. Allein ich kann es fast begreifen,
dass eine ältere Generation das Werk fremd
empfindet. Ruhiger, geschlossener und weniger
beweglich, fordert sie von einem Werke trotz
aller Reichhaltigkeit der Stimmungen eine ge-
wisse Gleichmäßigkeit im Empfinden, ein Auf-
theilen der inneren Kraft durch das ganze
Werk. Herr der Leidenschaften — ich denke
an den höchsten Typus, nicht an den Alltags-
pöbel, der überhaupt leidenschaftsfrei ist —
fordert sie statt des überströmenden Affectes
Bändigung desselben, statt des Prunkens mit
dem Affect eine gewisse Keuschheit auch im
stärksten Gefühlsausdrucke. Statt der Parodie
von Gefühlen, welche immer das Ergebnis
eines Kampfes zwischen Verstand und Herz
ist, fordert sie reines Spiel des Verstandes
(Witz) oder reines Spiel des Herzens (Humor).
Möglicherweise stehe ich dem Werke nach
Jahren ebenso gegenüber. Allein was thut’s:
Jede neue, junge Generation wird unfehlbar
auf diese Symphonie Gustav Mahlers schwören.

Die Symphonie zerfällt in zwei Theile:
Der eine rollt Bilder des Friedens, der idyl-
lischen, unentweihten Natur, des ersten frohen
Spiels der Lebenskräfte auf. Der zweite zeigt
eine entstellte Welt, aus der der Friede ge-
wichen ist, und welche ihre Erlösung erkämpfen
muss. Die Leidenschaften sind aufgewühlt, ein
grotesker Humor schneidet Grimassen. Spiegelt
die erste Hälfte die Welt gleichsam im Plan-
spiegel wieder, so schaut hier ihr Bild zer-
stückelt und verzerrt aus den Scherben eines
Convex-Spiegels heraus

Im Aufbau erinnert die Symphonie derart an
ein Theaterstück, in welchem sich die Kata-
strophe im Zwischenacte, zwischen dem zweiten
und dritten Aufzuge, abspielt. Das dramatisch
erregende Moment, welches den seelischen Um-
schlag herbeiführt, wird vom Künstler hinter
die Scene verlegt. Er appelliert an die Phan-
tasie der Hörer und überlässt es ihnen, vom
zweiten zum dritten Acte seines Ton-Dramas
Brücken zu schlagen. Hier haben die Hörer
der philharmonischen Concerte, welche zwischen
dem zweiten und dritten Satze einer Symphonie
an das Diner und nicht an Seelen-Katastrophen
aus der Zeit der Jugend und der Liebe zu
denken pflegen, den Künstler selbstverständlich
im Stiche gelassen. Vielleicht ist es aber auch
von einem Publicum, welches eine bessere
künstlerische Erziehung genossen hat, als das
Wiener, zu viel verlangt, dass es dort mit der
Phantasie nachhelfe, wo die Phantasie des
Künstlers nicht das ganze Erlebnis musi-
kalisch zu gestalten wusste.

Die beiden großen Haupttheile der Sym-
phonie: der lyrisch-idyllische und der ironisch-
tragische, schließen je zwei Sätze ein. Der erste
Satz des ersten Theiles ist mit Naturstimmungen
erfüllt. Vogelstimmen erschallen, Hörner er-
tönen, Trompetengeschmetter wird gleichsam
vom Winde hereinverweht. Die Themen sind

zart erfunden und drücken Lust, Behagen und
frohe Hingabe aus. Sie verweben sich in freier
Art, schlingen sich durch- und übereinander,
entgleiten und eilen aufs neue zum Reigen.
Wer hier eine »Durchführung« alten Stils
sucht, findet sie nicht; — der Waldweben-
stimmung entsprechend waltet ein freies
Ineinanderschwingen der Motive im ganzen
Satze, und der poetische Sinn bestimmt die
musikalische Gestaltung. Der zweite Satz, ein
Scherzo, welches kräftig (harmonisch, jedoch
allzu lang am selben Flecke) die Glieder rührt,
variiert die idyllische Stimmung in einer neuen
Form. Es sind Töne der gleichen naiven Weh,
ins Energische und Muntere gesteigert
Den zweiten Theil eröffnet ein Satz voll von
groteskem Humor, reich an Bizarrerie und
grimassierendem Geiste. Ich glaube, er ist der
eigenartigste des Werkes und seelisch tiefer,
als man denkt Es gibt erregbare Naturen,
welche starke Eindrücke, die sie im Innersten
packen, nicht anders paralysieren können, als
dadurch, dass sie dieselben verhöhnen, ver-
zerren, in Stücke reißen und zu Fratzen ver-
wandeln. Komödianten ihrer Schmerzen. So
befreit sich auch der Componist von tragischen.
Eindrücken, die eine Krisis seines Gefühlslebens
herbeiführen — etwa den Erinnerungen an
einen theuren Todten — dadurch, dass er sie
zur Groteske verzerrt und sie verhöhnt. Psycho-
logisch sehr fein ist in dieser Trauermarsch-
Caricatur der Moment, wo mit dem G-dur-Satze
das reine, echte Gefühl auf einen Moment
durchbricht und bald wieder dem fratzenhaften
Treiben weicht. So bereitet der dritte Satz
bereits den vierten vor, in welchem Tragik,
Verzweiflung, Seelenleid stürmisch durch-
brechen und endlich die Erlösung im Streite
der Choräle erkämpft wird. Dieser Satz, welcher
motivisch auf den ersten Satz zurückgreift,
explodiert mit Heftigkeit, ohne aber viel Schaden
auzurichten. Das hochgespannte naturalistische
Pathos fesselt die Phantasie des Hörers, statt
dieselbe zu entbinden. Eine Steigerung der Kraft
ist nach den ersten Takten nicht mehr möglich,
und ohne eine solche bleibt (nach einer Be-
merkung Carl Maria v. Webers) stets Kälte
zurück. Auch die Hörer muss man schmieden,
solange sie warm sind. Das Schluss-Triumphal
wirkt in solcher Stimmung als Gewaltstreich:
es schlägt nieder, statt zu erheben Dies
etwa ist der Stimmungsgehalt der Ersten
Symphonie Gustav Mahlers.

WIEN. MAX GRAF.

HOF-OPERNTHEATER: »DER BUND-
SCHUH«. Oper von Josef REITER. Text von
Max MOROLD.

»In jedem Frühling wachsen Rosen. —
Talente gibt’s genug, wenn sie nur entwickelt
würden«, so (oder ganz ähnlich) klagt einmal
Goethe Auch Josef Reiter ist ein echtes
Talent von einer gewissen urwüchsigen Kraft,
einer herben Entschiedenheit und größter
künstlerischer Ehrlichkeit. Er steht mit beiden
Füßen fest auf volkstümlichem Boden. Seine
Balladen haben einen natürlich-energischen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 416, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0416.html)