Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 414

Der Abbé Galiani (Kassner, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 414

Text

KASSNER: DER ABBÉ GALIANI.

Galianis Geist genügt es, zu wissen, dass
auch seine Auffassung des Helden einen
Begriff der Cultur bedingt. Er unter-
scheidet gar nicht zwischen Cultur und
Natur und schließt nicht aus. Galiani
schließt nie aus und acceptiert immer, er
acceptiert die Natur auf alle Fälle, und
dieses Acceptieren ist seine Cultur.

Galiani versteht den Menschen dort,
wo dieser, noch undefiniert von Glücks-
fällen, nach dem Leben ausblickt, er liebt
das Unbestimmte, das Untreue, das Mög-
liche am Menschen und das Unmögliche
seiner Begierden, die Stärke und Schlau-
heit, das Bereitsein. »Le grand homme
de nôtre siècle doit être quelque chose
d’indifinissable. Il faut qu’il n’ait ni les
vertus ni les vices, dont on parle dans tous
les livres de morale.« Macchiavelli ist
deutlicher und, weil er zu Fürsten spricht,
vor allem weniger theoretisch. »Bisogna,
adunque, essere volpe a conoscere i lacci,
e lione a sbigottire i lupi.« Beide sind aber
sehr logisch, und Galiani begründet die
Tugend seines »großen Menschen«, indem
er vom Thiere und der Rasse überhaupt
sagt: L’inconstance est une loi physique
de toutes les espèces d’animaux. Sans elle
point de fertilité, point de variété, point
de perfectibilité.

Nietzsche nennt Galiani einen Cyniker.
Er war es ohne Zweifel, aber mit dem-
selben Rechte könnte ich ihn einen
Skeptiker oder einen Platoniker nennen.
Es wäre mir leicht, Belege dafür zu erbrin-
gen. Heute sagt er cynisch, das Freiheits-
bedürfnis des Menschen sei angeborene
Faulheit, und morgen, es sei eine noth-
wendige Illusion, ohne die es weder eine
Gerechtigkeit, noch ein Gewissen gebe.
Er spricht beidemale mit Überzeugung.
Galiani glaubte entschieden nicht an etwas
Unveränderliches, an das Sein, an die
ewigen Ideen, nicht aus Rancune gegen
ein System, sondern weil er überhaupt
nicht glaubte. Er war Komödiant und
hütete sich vor jeder Unehrlichkeit großer
Worte. Er wusste sehr gut, dass der
Glaube eine innere Thatsache sei, die nicht
erst der Stütze einer Philosophie bedürfe,
dass kraft des Glaubens jeder Mensch ein
Held, kein einziger aber ein Philosoph sei,
und dass es Heuchelei und Schwäche sei,
wenn die Menschen aus halben Thatsachen

und halbem Glauben eine ganze Philo-
sophie oder einen ganzen Gott sich zu-
sammenflicken. Galianis Thatsache war der
Erfolg, die That, der Ausdruck, alles Ge-
schehene: das Ideal des Tyrannen also
und auch des Komödianten. Er gehört
zu jenen Menschen, deren Grund ein
Spiegel und deren Treue eine Maske ist.
An solchen Menschen war das XVIII. Jahr-
hundert ebenso arm, als das XIX. Jahrhun-
dert reich war. Ich erinnere an Stendhal
und Browning. Seine Ethik gibt daher
den Menschen nicht einen Grund, sondern
einen Ausdruck. Theoretisch schließt sie
einen prachtvollen Glauben an die Uner-
schöpflichkeit des Menschen ein; sie ist da
die Ethik des Schicksals, das den Menschen
wie mit einem Winken des Götterauges
auffordert, sich selbst vor ihm zu be-
gründen; praktisch ist es die Ethik des
Tyrannen und des Komödianten. Aus irgend-
einem Gesichtspunkte bildet für mich eins
eigenartige Verschmelzung des Tyrannen
und Komödianten den Künstler, und
Galiani war Künstler. Er ist nicht Ideo-
loge und weiß nicht zu sagen, was besser
sei: das Gesetz oder die Freiheit; er ist
Künstler und kennt einige Beispiele eines
schönen Vertrages — jedes Kunstwerk
ist ein Vertrag. »Si vous ouvrez les portes
à la liberté du language, au lieu de ces
chefs-d’oeuvre d’éloquence voici les remon-
trances, qu’un parlement fera: Sire, vous
êtes un s... j..... f.... Au lieu de
ces chefs-d’oeuvre de polissonnerie du
jeune Crebillon on lira dans un roman
un amant dire à sa dame: Je voudrais,
mademoiselle vous fl! l’horreur!« Man
lese auch folgende andere Stelle über die
Freiheit: »S’il y avait un seul être libre
dans l’univers, il n’y aurait plus de Dieu,
il n’y aurait plus de liaisons entre les
êtres; l’univers se détraquerait; et si
l’homme n’était pas intimement convaincu
toujours d’être libre, le moral humain
n’irait plus comme il va.« Galiani frägt
auch hier nicht wie alle grundlosen Idea-
listen, ob die Freiheit eine Thatsache oder
ein Betrug sei, er ist wiederum Künstler,
und sagt, die Freiheit sei eine nothwendige
Illusion. Jedes Kunstwerk ist ein Ideal,
das an Formen zu einer Illusion wurde.

Es ist merkwürdig, wie Galiani immer
recht hat; man möchte beinahe sagen,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 23, S. 414, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-23_n0414.html)