Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 428

Das Licht und die Inscenierung (Appia, Adolphe)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 428

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APPIA: DAS LICHT UND DIE INSCENIERUNG.

würde durch den Widerspruch zwischen
diesem Realismus und der im höchsten
Maße fictiven Bühnenconstruction, auf
welcher nicht ein Ton, nicht eine Geberde,
nicht ein Schritt der auftretenden Per-
sonen der Alltagswirklichkeit entsprechen.

Dagegen ist folgendes zu erwidern:
Die starre Nachahmung der uns bekannten
Formen und Gestalten gibt ja nicht den
einzigen Daseinsmodus dieser Formen
wieder; wir können uns letztere mit
Leichtigkeit in den verschiedenartigsten
Verbindungen vorstellen, sie uns in Be-
wegung denken, ja sogar als vor unseren
Augen Größe und Beschaffenheit ver-
ändernd. Also können wir mit diesen
Formen frei im Räume walten, wie ander-
seits die Musik als Ausdruck unseres
Innenlebens der überzeugendste Beweis
ist für die ideale Dehnbarkeit der Zeit.

Welchen anderen Daseinsmodus als
denjenigen, der durch die Schatten ge-
botenen Gegensätze, könnten wir aber für
das Licht annehmen? Und wie sollten
Wir uns die Entstehung der Schatten
anders denken, als durch die dem Licht-
strahl in den Weg gelegten Hindernisse?
Es ist eben etwas ganz Verschiedenes
um die reine, unzerlegbar einfache Existenz
des Lichtes, als um das Bild, das wir
von den im Raum vertheilten Formen in
uns aufnehmen; die erstere ist etwas
Elementares, Unbedingtes, das letztere
nur eine Modalität, über die hinaus unsere
Einbildungskraft ihre Flügel weit entfalten
kann.* Kurz, wenn unserer Phantasie
auch volle Freiheit belassen bleibt, sich,
was Zeit und Raum betrifft, über das
Alltags-Geschaute spielend zu erheben, so
bleibt das Wesen des Lichtes etwas an
sich Unantastbares.

Das Licht drückt uns durch seine
bloße Gegenwart die innere Wesen-
heit der Vision aus, weil es deren
Idee in einem einzigen Augenblick voll
erschöpft. Die Form drückt, unabhängig
vom Lichte, diese innere Wesenheit nur
insoweit aus, als sie an der Bekundung

organischen Lebens theil hat, sei es
durch ihre Zugehörigkeit zum lebendigen
Organismus, sei es dadurch, dass sie diesem
Hindernisse in den Weg stellt, welche
diesen Organismus zur Bethätigung
zwingen.

Die Idealität der Zeit, welche die
Musik in der Gestalt des Darstellers verkör-
pert, durchströmt also den Raum, um
dort eine der ihren gleichkommende Idea-
lität zu schaffen. Es ist einleuchtend, dass
unter diesen Umständen die unbedingten
Betätigungen des Lichtes, welche einen
wesentlichen Bestandtheil seines Wesens
ausmachen, nicht auf eine Linie gestellt
werden können mit der knechtischen und
einseitigen Nachahmung einer einzigen
Daseinsmodalität der Form.

Der naturnothwendige Realismus der
Beleuchtung ist demnach ganz anders
geartet, als der willkürliche Realismus der
Aufstellung; letzterer beruht auf der Nach-
ahmung einer Erscheinung, — jener
aber auf dem Vorhandensein einer Idee.

Indem die Farbe durch den Hinzutritt
des gestaltenden Lichtes gezwungen ist,
auf ihr eigentliches Wesen zu verzichten,
geht sie zugleich des ganzen Vortheils
verlustig, welchen die Bewegungslosigkeit
ihr bietet. Wenn sie zum Ersatz die Ver-
günstigung gewinnen will, welche ihr als
Element der Darstellung zukommt, so kann
sie es nur dadurch, indem sie sich der Be-
leuchtung unterordnet; denn das lebendige,
wirkliche Licht hat die relative Bedeutung
der Farbenzusammenstellungen aufgehoben.
Um dem scenischen Bilde die Beweglich-
keit zu wahren, welche dessen Charakter
ausmacht, muss der Wort-Tondichter einen
großen Theil dessen, was der Maler durch
die Farbe erzielt, aus der Beleuchtung
gewinnen. Mit Licht malt der Wort-Ton-
dichter sein Bild. Die leblosen Farben,
welche das Licht bloß vorgestellt hatten, sind
nicht mehr vorhanden, dafür aber ist das
Licht selbst da, thatsächlich und lebendig,
und nimmt der Farbe alles, was sich
seiner Beweglichkeit entgegenstellt.**

* Einer der Haupt-Anziehungspunkte der Höhenbesteigungen ist unzweifelhaft der, dass
uns dadurch die Möglichkeit geboten wird, an Verhältnissen und Zusammenstellungen der
Dinge im Raume theilzuhaben, wie sie sonst nur unsere Phantasie uns auszumalen vermag.

** Adolphe Appia ist der Verfasser des Buches »Die Musik und die Inscenierung«
(Verlag Bruckmann, München.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 428, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0428.html)