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Was ist denn überhaupt diese »Form«,
die man als Schiboleth der Kunst stets unnütz-
lich im Munde führt? Natürlich etwas ganz
Conventionelles, nach jeweiligem Geschmack
und Brauch Erstarrtes, geradeso dehnbar
und von zeitlich-räumlichen Verschieden-
heiten abhängig, wie andere Lebensformen
der Gesellschaftssitte. Dem Briten scheinen
continentale Sitten barbarisch, dem Con-
tinentalen umgekehrt die britischen, dem
Orientalen die europäischen insgesammt.
Der Grieche fände würdelos die moderne
Bühne, der Alt-Engländer vermisste an
deren scenischem Prokrustes-Bett die Ver-
wandlungen, die ihm die Handlung mühelos
nacheinander entrollen, der Moderne nennt
das schroffste Gegentheil dazu wahre drama-
tische Technik. Was man dem Massen-
instinct als »Form« suggerierte, meist der
Gedankenlosigkeit und Vergnügungssucht
schmeichelnd, braucht wahrlich nicht das
Richtige zu sein. Wenn ein eleganter
Weinreisender in einem Bourgeoiskreise
als Graf vorgestellt würde, fände er
Bewunderung seiner echt aristokratischen
Formen; träte aber ein verkappter echter
Aristokrat mit schlicht-vornehmen Ma-
nieren, der Geringschätzung falscher Ele-
ganz, daneben, so würde der Bourgeois
ihn über die Achsel ansehen. So lange
hat man ja die »schöne Sprache« Schillers
als höchste Poesie bewundert, dann wurde
man zur Abwechslung »Schiller-Hasser«
und schwärmte nur noch für äußerliche
Naturalistik — Was von beiden ist nun
die giltige Form?! Den großen Geistes-
aristokraten Grabbe und Marlowe begegnet
es ganz logisch, dass der Kunstmob sie
als wüste Plebejer auffasst. Und worin
bestand nun eigentlich ihr Formverbrechen?
Was zuvörderst das Sprachliche betrifft,
so fand Marlowe mehrfach glutvolles
Pathos, das an Shakespeare, lyrisch aus-
schwingende Schönheit des Ausdrucks, die
an Byron erinnert. Die sonstige Ausführung
blieb freilich eckig-roh, in der äußeren
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Technik nach moderner Auffassung kindlich-
unbeholfen, auch gebrach ihm ganz das
sprühende, reiche Leben Shakespeare’scher
Dichtung; in dieser Hinsicht und an dem
Einzigen gemessen ist er ein Stümper,
trotz mancher Stellen höchster Dichter-
kraft (Fausts Tod u. s. w.). Unfleißig und
sorglos dichtet er darauf los, wie es ihm
gerade passt. Aber die innere Form bleibt
darob nicht minder echt und groß. Mag
auch »Eduard II.« oft zu langweiligem
Chronikstil entarten, die große Scene mit
den Baronen, der Kampf um Gaveston
ist echte Dramatik, die Schluss-Scenen
echte Tragik. Und wer das großartige
Wort des Renaissance-Conquistadoren, als
er zum Schaffot geht, prägte: »Weint
nicht um Mortimer, der weltverachtend nun
von dannen reist, um unbekannte Länder
zu entdecken«, der steht wahrlich so
hoch, dass 10.000 »Künstler« ihn nicht
aufwiegen. Worin aber seine unvergäng-
liche Größe beruht, das ist sein titanischer
Gedankenflug hoch über seine Zeit ins
Ewige hinaus, obschon mehr unbewusst
als bewusst nach dem Ewigen ringend.
Goethe selbst gestand ja zu, wie groß-
artig alles im »Faustus« gedacht sei,
freilich nur englischen Besuchern gegen-
über, und den Deutschen verschwieg er,
dass Mephistofeles, Helena und der Sinn
des Anfangsmonologs sich schon bei
Marlowe finden. Mag er nun auch neben
Goethe und vollends Shakespeare nur ein
verkümmerter Torso geblieben sein, sollte
man doch für unglaublich halten, dass
dies Genie — obzwar unausgegohren
in der Blüte weggerafft — in landläufiger
Literaturgeschichte höchstens als »wüstes«
Talent gilt. Seine Form war für seine
Zeit und seine Zwecke nicht störend.
Aber diese elende Kunstsimpelei erfasst
ja immer nur die Schale, soweit ihre
hohlen Weisheitszähne sie zernagen können,
und vom Innern höchstens noch den
süßen Saft, nie den heilsamen, bitteren
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