Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 432

Marlowe, Grabbe und Lenz Ahnungen und Lebenswellen (Bleibtreu, CarlDriesmans, Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 432

Text

DRIESMANS: AHNUNGEN UND LEBENSWELLEN.

Malerei aber wirkt anekdotisch, episoden-
haft, ungleich dem zielbewussten Weltbild-
Milieu in Grabbes Historien. Der Cynis-
mus selber, Lenz und Grabbe abgelauscht,
entbehrt ganz der inneren Nöthigung
echter bitterer Leid-Satire, er steht sozu-
sagen kokett vor dem Spiegel, Salon-
Cynismus. Das sprunghaft Epigramma-
tische dieser historischen Genre-Scenen,
nach Grabbe copiert, hat nirgends die innere
formale Natürlichkeit der Grabbe’schen
Lapidarschrift. Aber weil dieser geistig
unreife Jüngling die »Kraftgenialität« mit
sauberer Eleganz austiftelte, deshalb
sehen manche darin Genie im Gegensatz
zu dem verpönten Grabbe und Lenz, und
Büchner fand im allgemeinen Gnade bei
den Literarhistorikern, die seinen frühen
Hingang beklagen, als ob hier Wunders
was zu erwarten gewesen wäre. Denn
überall wittert der Kunstphilister consequent
Geist von seinem Geiste — das ist die
einzige Consequenz seiner Beurtheilung
— nämlich Formsinn im äußerlichen
Sinne, während die falschen »Genies«,
wie Büchner und Hauptmann, jeder wahren
inneren Form entbehren. Form und Inhalt
sind freilich eins, Form vom Inhalt nicht
zu trennen, doch in ganz anderer Weise,
als der Kunst-Banause meint. Denn der
specifische geistige Gehalt (Inhalt) hat
doch naturgemäß an sich eine bestimmte
Structur (innere Form) und der Aus-
druck (äußere Form) erwächst logisch
mit unbewusstem Naturprocess aus dem
Inhalt. Die Kunstpfafferei aber gleicht

durchaus der conventionellen Moral-
pfafferei, denn beide bevormunden mit
willkürlicher Menschensatzung, ohne sich
deren völliger Relativität bewusst zu werden
und die Berechtigungsursache abweichen-
der Lebensart zu berücksichtigen. Die
»Kunst«, wie die Theologie (die Anmaßung
des Verlehrtenthums der Wissenschaft
nicht zu vergessen) ist als beschränktes
Menschenwerk ein Todfeind der unver-
fälschten Natur. Und doch spach Dürer
das große Wort: »Die wahre Kunst« —
er meinte die echte Schöpfung — »steckt
in der Natur, wer sie dort herausreißt,
der hat sie«. Darum sind im letzten Ur-
grund Grabbe, Marlowe, Lenz u. s. w.
und auch Bums, Petöfi (die urwüchsigen
Volks-Lyriker) »Künstler«, weil aus Natur-
drang schaffend, die »Künstler« keine.
Wer die Höhe jenseits Gut und Böse
des ästhetischen Pharisäerthums erreicht,
wird über die Phrase vom »großen Woller
und kleinen Könner« lachen. Kein
großer Könner war ein kleiner Woller,
kein großer Woller je ein kleiner Könner.
Denn, was dem Banausen als »Können«
erscheint, ist meist handwerkmäßiges
fleißiges Afterkönnen, das durch eleganteste
Alluren doch niemals das Können der
Kraft erzwingt. Deshalb wirkt es auch so
beweiskräftig, dass die Werke der »großen
Woller«, die das niedere Auffassungsver-
mögen des Banausen beleidigen, allemal
von den wenigen Verständnisvollen als
allergrößtes Können empfunden und
beurtheilt werden.

AHNUNGEN UND LEBENSWELLEN.
Von HEINRICH DRIESMANS (Berlin).

Wir behandeln im folgenden Erleb-
nisse, die, so schlicht sie sich ausnehmen
mögen, doch wunderbar genug erscheinen,
um sich ernstlicher mit ihnen zu beschäf-
tigen und für die wir eine naturwissen-
schaftliche Erklärung suchen. Sollte dies
gelingen, dann dürfte ein Weg gefunden
sein, dem naturgesetzlichen Grund erstaun-
licher Erscheinungen, wie gewisser hyp-

notischer Phänomene, vor denen der Laie
sich entsetzt und über die der Gelehrte
sich bisher noch vergeblich den Kopf
zerbrach, auf die Spur zu kommen. Es
sind Vorausahnungen im alltäglichen Leben,
die den skeptisch geschulten Geist, dessen
wir uns rühmen dürfen, umsomehr über-
raschen müssen, als sie sich fast unmittel-
bar nach ihrem Eintreten realisierten und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 432, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0432.html)