Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 431

Marlowe, Grabbe und Lenz (Bleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 431

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BLEIBTREU: MARLOWE, GRABBE UND LENZ.

anpasst. Sein historischer Sinn, über
Shakespeare vermöge höherer Bildung
emporragend, hat hier in Milieu-Scenen
eine Plastik, eine Lebendigkeit erzielt, die
schlechterdings ohnegleichen dasteht. In-
mitten aber steht der realistisch gepackte
Thatheld, der freilich für Max und Thekla
nicht fühlt, doch für der Menschheit große
Gegenstände in Behauptung der eigenen
Größe ficht und fällt. Mag auch sein
Napoleon wirklich realistischer Züge ent-
behren und mehr dem phantastischen
Halbgott der Mythe, statt dem gerade
durch naive Menschlichkeit noch über-
natürlicher wirkenden Genie-Kaiser gleichen,
dennoch weht echte Weltgeschichts-Größe
um diese Figur, weil ihr gesammtes
Welt-Milieu so wunderbar richtig getroffen.
Wir begreifen, warum und wozu dieser
Erschütterer eines morschen Europa da
ist, warum Hannibal untergehen muss
und Rom nothwendig über seine Leiche zur
Weltherrschaft schreitet. Freilich ist dies
Epik, nicht eigentliche Dramatik, aber
das, was Grabbe eben wollte, ließ sich
weder erzählend, noch als wirkliche
Dramatik gestalten, sondern nur in dieser
Form sozusagen dramatischer Epigramme,
pointierter Einzelscenen. Und dies nennt
man »wüste Formlosigkeit«, in einer Zeit,
die das trostlos fleißige Abquälen des
Hauptmann’schen Florian mit andächtigen
Schauern begrüßte — o ihr Kleingeister!

Bleibt noch Lenz, der ja moderner
Strömung nähersteht. Er ist der Verist
unter den Vier. Auch von bedeutenden ge-
danklichen Anregungen ausgehend, stattet
ihn ein schmerzlicher Wirklichkeitsinn
aus. Was uns heute cynisch-cariciert
daran erscheint, war es nicht für seine
Zeit, und fast jeder Zug dieser naturali-
stischen Genre-Scenen trägt den Stempel
der Echtheit. Selbst der baroke Schluss
des »Hofmeister« hat eine tief bohrende
Leid-Erfahrung zur Voraussetzung, und
wer darüber spöttelt, hat jenes Gebiet
der Erotik, auf dem man die »Kunst«
allein sucht, nur wenig bewandert. Nun
freilich, formal scheinen diese zerhackten
Theilscenen, denen doch so ungewöhn-
liche drastische Realismuskraft innewohnt,
nicht ausgereift. Doch bleibt immer
zweifelhaft, ob echte, lückenlose Voll-
ständigkeit eines Lebensbildes überhaupt

in anderer — der praktischen Bühne
anbequemter — Form möglich ist. Gewiss
wirkt »Kabale und Liebe«, das »beste«
deutsche Sittendrama und das im Wurf
beste Drama Schillers überhaupt, ein-
dringlicher durch compositionelle Ge-
schlossenheit und unvergleichlich mäch-
tigere »Dramatik«, soll heißen: Theatralik.
Aber wenn es darauf ankäme, dann
würden Schiller und sein als Theatraliker
fast ebenbürtiger Jünger Wildenbruch an
der Spitze der Literatur marschieren und
gerade Goethe, der unfehlbare National-
götze der Kunstphilister — wahrlich göttlich
genug, doch weder unfehlbar, noch irgend-
wie abschließend und poesieerschöpfend —
könnte damit nicht einen Augenblick
Schritt halten. Doch die unreife Ästhetik,
die infolge der Haltlosigkeit ihrer Doc-
trinen immerfort den Standpunkt wechselt,
begreift nicht, dass sie, wenn Goethe ver-
götternd, nothwendig Schiller radical ver-
dammen, einem Lenz aber heute doppelt
gerecht werden müsste, wo sie die
Hauptmann-Mode hätschelt. Lenz ist ein
Vorläufer des modernen Realismus, wie
Marlowe der Vorläufer Shakespeares
einer- und Byrons andererseits, Grabbe
aber und Kleist eventuell die Vorläufer
eines Andern, der Beide in sich vereinen
müsste, um das volle realistische Helden-
Historiendrama zu schaffen. Weil aber
Lenz bloß Leidenschaft, Leid-Erfahrung
und Genialität besitzt, welche drei Er-
fordernisse wahrer Dichtung den »Künstler«
stets unsympathisch berühren, so gilt er
als Stümper und der nur formal verdienst-
liche Hauptmann als Meister, obschon
Lenz unendlich stärkere innere Form
auslöste. Wie naiv- oberflächlich aber
der Kunstphilister nur nach äußerer
Formsauberkeit urtheilt, zeigt noch die
übliche Gleichstellung und Zusammen-
nennung Georg Büchners mit Lenz
und Grabbe. Dieser frühreife Jüngling
war nicht nur ein unfertiges Fragmentchen,
sondern wesentlich formaler Nachahmer.
Kein dichterischer Sturm und Drang will
hier handeln, sondern nur ein Tages-
raisonneur revolutionär mitreden: bezeich-
nend, dass Gutzkow »Dantons Tod« ent-
deckte und herausgab. Geistreiche, doch
unklar zerrissene Reflexion liegt zugrunde,
Gestaltungsgabe fehlt völlig, die Milieu-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 431, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0431.html)