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somit gewissermaßen mit Händen zu
greifen waren. Der Mensch, von Natur
aus wundersüchtig veranlagt, ist leicht
geneigt, jedes unerklärliche Geschehnis
unwillkürlich auszuschmücken und aufzu-
bauschen. Wir werden uns von diesem
Fehler freizuhalten wissen, indem wir das,
was wir zu erzählen haben, auf die nack-
teste Nüchternheit zurückführen und gleich-
sam nur das geistige Gerippe davon dar-
bieten:
Als der junge Goethe von Sesenheim
Abschied genommen und auf dem Fußpfade
gegen Drusenheim ritt, da überfiel ihn eine
der sonderbarsten Ahnungen. »Ich sah nämlich«,
erzählt er in »Wahrheit und Dichtung«, »nicht
mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes,
mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde
wieder entgegenkommen, und zwar in einem
Kleide, wie ich es nie getragen: es war hecht-
grau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus
diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt
ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, dass
ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir
geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl,
sondern aus Zufall gerade trug, mich auf dem-
selben Wege fand, um Friederiken noch ein-
mal zu besuchen«. Wir müssen bekennen,
dass wir lange den Kopf darüber geschüttelt
haben, wie ein so großer und klarblickender
Geist an solche Wahngebilde glauben konnte,
bis wir aus nachstehendem Erlebnis die Grund-
stimmung solchen Phänomenen gegenüber für
alle Zukunft gewannen.
Als vor mehreren Jahren die Influenza
zum erstenmale wieder auftauchte, hatte ich
einen heftigen Anfall auszuhalten, an dem
ich wochenlang darniederlag. Während dieser
unfreiwilligen Muße zog mein vergangenes
Leben im Geiste an mir vorüber. Dabei trat be-
sonders eine Gestalt stark hervor, mit der ich
in der Jugend glückliche Tage verlebt hatte.
Sie war mir im Verlaufe der Jahre nicht nur
aus dem Gesicht, sondern ganz aus dem Sinn
gekommen. Kaum, dass ich mich ihrer noch
einmal erinnert hatte. Nun erschien sie mir
mit einemmale in ganz besonderem, rosigem
Lichte: die Zeit, welche wir gemeinsam ver-
bracht, galt mir als die schönste meines
Lebens. Mein ganzes Wesen klammerte sich
an diese vergangenen Tage, und eine unsag-
bare Sehnsucht ergriff mich, wie nach einem
verlorenen Paradies. Ich konnte die Erinne-
rung daran nicht mehr los werden, mein Geist
beschäftigte sich unaufhörlich mit ihr. Eine
ganze Nacht hindurch lag ich schlaflos, nur
in Gedanken an diese — damals geliebte —
Gestalt. Wie musste ich daher erstaunen,
als am nächsten Morgen ein Brief eben dieser
Persönlichkeit eintraf, von der ich acht Jahre
lang nichts mehr gesehen und kaum gehört,
in welchem sie mir ihre Anwesenheit in
meinem Aufenthaltsort anzeigte, mit dem
Wunsche, mich wiederzusehen. Man wird
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errathen haben, dass es eine Frau war. Das
Mädchen von damals hatte sich inzwischen
verheiratet und wohnte nicht weit von meiner
Stadt.
Es ist augenscheinlich, dass ich in diesem
Falle durch eine starke Erregung meines
Nervensystems, welche mein Kranksein mit
sich gebracht, zu dem Vorausfühlen besonders
prädisponiert war. Bei anderen Gelegenheiten
sprach ein solcher Umstand nicht mit. So
saß ich eines Tages im Rundreise-Bureau des
Bahnhofes Friedrichstraße in Berlin, mit der
Zusammenstellung eines Fahrscheinheftes be-
schäftigt. Ich saß in der Nähe der Thür, über
das Nachschlagebuch gebeugt, als diese sich
öffnete und ich den Schein der eintretenden
Gestalt gewann, wobei es mir blitzartig durch
die Gedanken fuhr: Ist das nicht der Maler E.?
Ich hatte diesen Maler etwa ein Jahr zuvor
flüchtig kennen gelernt, aber seitdem nicht
mehr gesehen. Ich hob den Kopf — indessen,
es war nicht der Maler E., sondern ein
anderer Herr in grauem Anzug. Das Erstaun-
liche bei dieser Gelegenheit war nun, dass
besagter Maler fünf Minuten später that-
sächlich in das Bureau trat — in grauem
Anzug.
Ähnliche Erlebnisse könnte ich zu Dutzen-
den erzählen. Warum drängt es mich, vom
Bahnhof Zoologischer Garten kommend, heute
in die Kantstraße einzubiegen, während ich
sonst immer über den Kurfürstendamm nach
Hause gehe? Unter der Stadtbahn-Überbrückung
treffe ich einen Bekannten, der mir eine mich
angehende und sehr interessierende Mittheilung
zu machen weiß. Merkwürdig, dass ich
diesem Bekannten schon einmal auf ähnliche
Weise begegnet bin, wobei er gleichfalls eine
erfreuliche, mich angehende Nachricht hatte!
Vor kurzem wollte ich gegen Abend in ein
Restaurant der inneren Stadt fahren, verliere
aber, am Zoologischen Garten angekommen,
die Lust dazu, mache kurzum Kehrt und lenke
nach einem Restaurant des Westens, wo ich
einen Herrn treffe, mit dem ich mich tags-
über viel in Gedanken beschäftigt hatte. Ein
anderer Fall. Ich gehe von der französischen
nach der Markgrafenstraße, und in dem
Augenblick, da ich um die Ecke biegen will,
habe ich die Empfindung, unter zwei sich
bäumende Pferde zu gerathen. Ich springe
unwillkürlich nach dem Fußsteig. Es war
nichts. Als ich aber eine Viertelstunde später
von der Friedrich- in die Kochstraße einbiege,
entgehe ich mit knapper Noth dem Doppel-
gespann einer Equipage. Wie oft ist es mir
begegnet, dass ich an jemand denke, auf den
ich bei der Biegung um die nächste Ecke
stoße! Warum treibt es mich eines Nach-
mittags, ein kleines Café gegenüber der
Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche zu besuchen,
das ich noch nie betreten? Ich sehe dort
eine Person wieder, mit der ich vor zwei
Jahren in besonderen Beziehungen gestanden
und die ich seitdem aus dem Auge verloren.
Nun auch einmal ein heiteres Erlebnis.
Im Sommer 1897 stieg ich auf den Rütliberg
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