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bei Zürich. Oben plauderte ich mit einer
Kellnerin, die sehr unterhaltsam war. Als ich
bemerkte, dass ich am nächsten Tage nach
Luzern wolle und dort im Hotel St. Gotthard
logiere, sagte sie, dass ihre Cousine in dem
letzteren beschäftigt sei und erzählte mir unauf-
gefordert deren halbe Lebensgeschichte. Am
nächsten Abend saß ich im Restaurant des
Hotel St. Gotthard, in dem wohl ein Dutzend
Kellnerinnen hantierten. Aufs Gerathewohl
sagte ich zu dem Mädchen, das mich zu be-
dienen kam: Guten Abend, Louise Gassner!
Das Geschöpf stand starr vor Staunen über
den wildfremden Gast, der es bei seinem
vollen Namen nannte. Es war in der That
die »Cousine«. Ich war grausam genug, das
Mädchen in noch größere Verlegenheit zu
bringen, indem ich ihm Verschiedenes aus
seinem Leben erzählte — bis ich der Er-
schrockenen endlich das Räthsel löste.
Nun zur Erklärung dieser Vorahnungen
und Begegnisse.
Die drahtlose Telegraphie dürfte einen
Fingerzeig geben. Ein elektrischer Apparat
löst eigenthümliche Luft- oder Äther-
schwingungen aus, die sich auf weite
Entfernungen hin dem entsprechenden,
entgegengerichteten Apparat mittheilen und
sich in diesem in die angeschlagenen
Zeichen umsetzen. »Der Mensch an sich
selbst, insofern er sich seiner gesunden
Sinne bedient«, sagt Goethe, »ist der
größte und genaueste physikalische Apparat,
den es geben kann«. Mit größerem Recht
als von einem künstlichen Apparat dürfen
wir annehmen, dass vom Menschen, vom
Nervensystem, speciell von den Gehirn-
nerven, die wir uns unausgesetzt in feinster
Vibration denken müssen, Schwingungen
ausgehen, welche sich einem anderen
Menschen, der dazu gestimmt ist, mit-
theilen. Diese Schwingungen, die wir
Lebenswellen nennen wollen, setzen
sich in Dem, der von ihnen getroffen
wird, in Vorstellungen um, rühren in ihm
analoge Erinnerungsbilder auf, beziehungs-
weise setzen die Gehirnnerven des Ge-
troffenen in den Vibrations-Zustand, der
das Bild Desjenigen ins Bewusstsein ruft,
von dem sie ausgiengen. Wir möchten
behaupten, dass jeder Mensch, wie seine
einzigartige Individualität, so seinen eigenen
geistigen Vibrations-Takt hat. Je eigen-
artiger ein Mensch ist, je höher er steht,
desto energischer und lebhafter wird dieser
Takt bei ihm sein und desto empfänglicher
wird er sich für die Lebenswellen Anderer
erweisen. Wir kleinen Menschenkinder
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mögen gelegentliche Vorausempfindungen
oder Fern Wirkungen, wie die geschilderten,
haben; ein Sokrates hatte seinen
»Dämon«, den er befragen, von dem er
sich leiten lassen konnte, der sich ungerufen
meldete, so oft er vor einem entscheidenden
Ereignis stand. Das will besagen, in
Sokrates war das Organ — sofern wir
ein solches annehmen dürfen — welches
auf die »Lebenswellen«: gestimmt ist, so
übermächtig entwickelt, dass es durch die
materielleren Sinneseindrücke nicht gestört
und übertönt werden konnte. Selten ist
dies bei einem Menschen in solchem Maße
der Fall. Der gewöhnliche Mensch vernimmt
wohl hin und wieder im Traum, in nacht-
wandlerischen oder hochgespannten Nerven-
zuständen eine ahnungsvolle, warnende
Stimme, über die er sich keine Rechen-
schaft zu geben und die er nicht zu deuten
versteht; aber in der Regel bleibt es in
ihm todt und still. Sein auf die sicht- und
hörbare Welt, auf die Erfahrungsthat-
sachen ausschließlich gerichtetes Sinnen-
leben ist zu mächtig über ihn. Das Geräusch
und die Blendung des Tages übertönen
jenes Organ, durch welches die »Lebens-
wellen« zu ihm sprechen. Demgemäß
sind Geschäftsleute und Tagesmenschen
Ahnungen und Fernwirkungen am wenig-
sten, Menschen hingegen, die viel in
Einsamkeit oder in traumwandelndem
Zustand leben, wie Dichter und Philosophen,
am meisten zugänglich. Nur ein Goethe
konnte sich selbst in der geschilderten
Deutlichkeit erblicken, und nur ein Goethe,
der eben von Friederike Brion Abschied
genommen. In solchen Menschen vermag
sich das innere Organ, unbehelligt von
äußeren Sinneseindrücken, zu ungeahnter,
übermächtiger Stärke zu entwickeln, so dass
die Erscheinungen seines Ahnungs- und
Fernempfindungsvermögens gespenstig in
das wirkliche Leben hineinragen und ein-
greifen.
Man spricht von »Sonntagskindern«,
die mehr sehen und vernehmen, als
andere Menschen, und von solchen, die
eine »glückliche Hand« haben. Diese
dem Volksmunde entstammenden Be-
zeichnungen treffen mit dem zusammen,
was wir unter der Empfänglichkeit
für Lebenswellen verstehen, welche
eine bestimmte Vibrationsfähigkeit des
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