Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 436

Ahnungen und Lebenswellen Was am Wege liegt (Driesmans, HeinrichVick, Carl)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 436

Text

VICK: WAS AM WEGE LIEGT.

tretende Nachtseite des Geisteslebens ist
der Widerspruch gegen die einseitige
Empirie unserer Tage und zugleich die
fehlende Ergänzung der letzteren. Je
mehr wir das nachtwandlerische Element
in uns zu seinem Rechte kommen lassen,
desto »vernünftiger« wird es sich im
Leben gebärden; je mehr wir es zu unter-
drücken und auszutreiben suchen, desto
tollere Orgien wird es in gewissen Secten
und Kreisen des Volkes feiern. Es gilt,
die menschliche Harmonie und die Har-

monie des Geisteslebens in der Gesammt-
heit durch stärkere Betonung des »Nacht-
wandlerischen« wieder herzustellen, und
auf dem »dunklen Pfade« zu einem
Wissen zu gelangen, das sich unseren
Sinneswahrnehmungen und unserem Ver-
stand entzieht. Dieses Wissen, im Dienst
der Wissenschaft gesucht und gefunden,
dürfte eine mächtige Umwälzung und
Umwertung unserer Denk- und Lebens-
weise im Gefolge haben.

WAS AM WEGE LIEGT.
Von CARL VICK (Görz).

Wer zu Fuß wandert, bückt sich wohl
nach dem, was am Wege liegt. Auch das
Leben kann man zu Fuß durchwandern
und, wer es thut, wird oftmals Rast halten
und sich bedächtig nach jenen Dingen am
Wege bücken müssen. Einer, der sich
viel gebückt hat, dem jene Dinge bekannt
sind, von denen man auf der Straße nicht
redet, der trägt zuletzt in sich eine Menge
von Menschenleid und wirrem Menschen-
unsinn und weiß doch nicht, wem er all
dies Leid klagen soll.

Es gibt Leute, die dazu geboren sind,
das Leben zu Fuß zu durchwandern. Man
kennt sie, aber man hört selten auf das,
was sie sagen. Nur, wenn jemand von des
Lebens Höhe in die Region der Fuß-
gänger hinabgleitet, und dieser jemand
Stimme besitzt, dann kann es wohl sein,
dass man darauf achtet, was er über die
Dinge zu sagen hat, die am Wege liegen.

Am Wege — jede Gasse einer Stadt,
sei es Groß-, sei es Kleinstadt, sagt es,
zeigt es. Je schmaler die Gasse, desto
eher. Da sendet die Sonne selbst an hellen
Sommertagen ihr Licht nur wie unter
einem Winkel bis in den Straßenkoth. Am
schmalen Steigrand auf einem Schemel sitzt
ein kleines Mädchen; es baumelt einförmig
im gleichen Takte mit seinen bloßen Füßen

über einer Pfütze, als ob es träume. Aus
dem schmutzigen Wasser glitzert blendend
ein Wiederstrahl der Sonne. Die Wangen
des Kindes tragen jene bleiche Farbe, wie
nur die Gasse sie erzeugt. Schwermuth,
noch zart wie ein Hauch, überschattet das
feine Gesichtchen. Jener schmerzliche Zug,
der allen Menschen der Gasse in unbe-
wachten Augenblicken eigen ist, gräbt
schon in des Kindes Antlitz seine ersten
Linien.

Die Menschen der Gasse bleiben mit
wenig Ausnahmen am Lebenswege liegen.
Ihre geistigen und sittlichen Glieder er-
scheinen, von einer unsichtbaren, mit
keinem Namen benannten Macht gewaltsam
verzerrt, in phantastischen Gruppierungen:
sphinxartig, centaurenhaft, wie Drachen
und Unthiere der Fabel. Und je unnatür-
licher sittliche und geistige Elemente mit
einander disharmonische Gebilde erzeugen,
umso traurigere Katastrophen erleidet das
edle Menschliche, welches nun einmal
Wohnung sucht bei Menschen, auch bei
denen der Gasse. Auch hier werden aus
Knaben Jünglinge, aus Mädchen Jung-
frauen; doch die Schatten auf aller Antlitz
werden umso tiefer und kräftiger. Männer
ballen im Zorn ihre Hände und suchen
Schutz gegen die Verkrümmung ihrer Seele,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 436, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0436.html)