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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 437

Text

VICK: WAS AM WEGE LIEGT.

aber wen treffen sie? Und die Frauen?
Liebe und Freude wollen menschlich rein
und schön auch zu ihnen kommen. Und
sie kommen? Sie kommen wie die Leiden-
schaften: gewaltsam, sinnlich, werden zu
Fleisch und Blut, und aus einer Jungfrau
wird ein Weib der Gasse.

Noch spielen die wenigen Sonnen-
strahlen auf dem blonden, glatten Haar
des träumenden Mädchenkopfes; noch ist
das Zukünftige nicht vorhanden. Doch
niemanden wüsste ich, der des Kindes
Hand nähme und es von jener Stelle ab-
seits vom Wege auf die reine große Straße
hinausführe, wo die Sonne nicht wie in
einem Winkel in eine Pfütze scheint.

Eben öffnet sich die Thür zu einer
Schankwirtschaft. In dem engen Raum
vom Haus hüben zum Haus drüben wallt
ein Dunst. Scharfer Tabakrauch, vermischt
mit dem Geruch schlechten Bieres, dem
Fettduft vom Küchenherd her und der
Ausdünstung der Menschen schaffen diese
Atmosphäre. Es scheint, je tiefer die
sociale schiefe Ebene sich abwärts neigt,
je mehr der Mensch dem Einflüsse der
untersten Sphäre ausgesetzt ist, umsomehr
hafte ihm ein kennzeichnender Geruch an.
Oftmals befinden sich in einer Gasse zu
beiden Seiten in fast jedem zweiten Hause
Schanklocale. In allen kehrt ein und das-
selbe fortwährend wieder: an den Menschen
die Kleidung, das Gebaren, die Rede, der
Blick; an den Räumlichkeiten die ärm-
liche, regellose innere Einrichtung, die
unklare, todte Farbe der Wände und der
Decken, die Unsauberkeit der Geräthe,
beschmutzte Fensterscheiben und der wal-
lende Dunst, der dem Bewohner der Gasse
sich anheftet, in seinen Kleidern sich fest-
setzt, in welchem er athmet. Ja: von gar
nichts wird das Brutal-Hässliche verhüllt;
es wohnt hier, es herrscht hier, es stimmt
alle Dinge gleichmäßig auf denselben Ton;
es breitet sich aus als eine Macht, die
alles Schöne ewig begraben möchte.

Am Wege — sie wandeln nicht die
Straße des Lebens, die in der Gasse
wohnen. Ihr Leben richtet sich nicht nach
Zwecken, ihr Handeln nicht nach Zielen,
ihr Denken nicht nach Gründen, ihr Fühlen
nicht nach jener Liebe, welche die Mensch-

lichkeit gebietet. Zu Zeiten gebietet die
Nothdurft, zu Zeiten sinnliche Leiden-
schaft, zu Zeiten der Zorn, zu Zeiten der
Hass. Ihre Zwecke sind klein; sie reichen
nicht über den Tag hinaus. Sie ist ein
Gewebe von Nothdurft und Leidenschaft
— die Gasse zwischen den alten, modrigen
Häusern, gedrängt voll Menschen, mag
man von Anfang bis zum Ende der Gasse
gehen: man beobachtet immer dasselbe:
über allen Wohnungen schwebt brodelnde
Unruhe, von hässlichen Genien geschürt,
von der Sorge, von der Noth, von der
Pein und von dem Misswachs. — Am
Wege.

Ob die Leute der Gasse ihre Lage
nicht kennen? Sie kennen sie. Sie leiden.
Sie zürnen wider ihr Schicksal. Sie ballen
im Zorn ihre Hände. Sie schlagen — sie
schlagen, aber gegen wen? Können sie
die Genien treffen, die über ihren Wohnungen
brüten? Sie treffen nur sich selber, sei es
im Zorn, im Hass oder in der Rache. Dem
Schicksal zu entgehen, kämpfen sie gegen-
einander; es kämpft Mann gegen Mann,
die Mutter gegen den Vater, Kinder
kämpfen gegen die Eltern. Sie suchen
einander niederzuringen, damit der Be-
freite oben stehe.

Jene dumpfen Schatten über ihren
Wohnungen spielen noch mit ihrem Sehnen
nach Befreiung. Sorge und Noth dictieren
Wünsche nach Geld. Pein lehrt nichts,
als andere zu peinigen. Der Misswachs
zeugt Neid. Die Sehnsucht nach Freiheit
erweckt die Instincte der Tyrannei.

Die Schanklocale der Gasse sind
Centren, von denen aus sie regiert wird.
Der Credit ist des Wirtes Waffe. Den
Leuten der Gasse, von Sorgen überwältigt,
ist der Wirt der Helfer. Darauf gründet
sich seine Thätigkeit. Er creditiert in der
Gewissheit, dass seine Schuldner infolge
ihrer Lage an die Gasse und an ihn ge-
bannt sind. Sein Gewerbe bringt viele
Pfennige. Um die Pfennige der Leute zu
bekommen, lässt er sich beschimpfen und
verachten. Nicht um sein Brot zu ver-
dienen, bleibt er Wirt. Die Pfennige, die
sich summieren, sollen ihn emportragen;
sie sollen ihn zum Herrn der Gasse machen.

Der Wirt der Gasse ist nicht der
einzige, dem sich die Sehnsucht zum
eigentlich Guten, der Drang nach der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 437, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0437.html)