Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 439

Was am Wege liegt Aischylos und das Burgtheater (Vick, CarlRappaport, Felix)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 439

Text

THEATER.

es aufzulösen. Nur das recht Schöne wird
vom Hass und vom Hässlichen verfolgt.

Was am Wege liegt — es sind die
ungelösten Dinge
. Aus ihnen reckt sich
wie ein Phantom der Rache die Frage
nach ihrer Lösung. Sie wirft sich auf
deinen und meinen Bruder. Sie sucht
Lücken in dir und mir und in der Seele
unseres Bruders. Dort hält sie Einzug,
dort bleibt sie wohnen; und jener, der
so wenig imstande ist, dein und mein
Ungelöstes zu lösen und todt zu machen,
der das deine und das meine mit sich

herumschleppt und daran sterben wird,
wo anders wird er sterben können, als
in der Gasse?

Die Gasse gleicht einem Friedhof,
auf dem zu Mitternacht die Todten lebendig
werden. Die Todten sind unersättlich. Der
Fußgänger des Lebens, der am Tage und
beim hellen Licht der Sonne sein Ziel
sucht, findet auf seiner Wanderung viele
solche Dinge, von denen er weiß, dass
die Todten sie fordern werden, die ihn
in seiner Seele schmerzen, Dinge, die am
Wege liegen.

THEATER.

Aischylos und das Burgtheater.
Dass das Missverstehen und die plumpe
Verfälschung von Culturwerten bei uns
die öffentliche Behandlung aller Kunst-
probleme kennzeichnet, ist hier bereits zur
Genüge constatiert worden. Es ist das Los
alles Geistigen, von seinen zeitlichen —
angeblichen — Vertretern compromittiert
zu werden: so Goethe durch den Goethe-
bund, die Griechen durch die Philologie.
»Indem er das Griechische zu verkünden
vorgibt, bekämpft er es« sagte der Ver-
fasser von »Rembrandt als Erzieher« über
Herrn v. Wilamowitz: »er vermischt
diesen Wein mit seiner Schwefelsäure«.
Missverstandenes zu preisen und sich nicht
danach zu richten, ist seit jeher Gewohnheit
der Nachfolger Nicolais; sie lieben nur den
todten Aischylos, den lebenden würden sie
— todtschweigen. Die Verlogenheit dieser
Leute zeigte sich selten so deutlich, wie
anlässlich dieser angeblichen Aufführung
der Orestie: während sie den Dichter im
Munde führen, verballhornen sie sein
Werk in stupider und verbrecherischer
Weise. Die Orestie ist ein Musik-
drama. Sie entstammt jenen Anfängen,
in denen sich die Handlung aus der Stim-
mung, das Drama aus dem Dithyramb ent-
wickelte. Den gesammten lyrischen Theil
einfach auszuschalten, die Chöre gewaltsam
zu entfernen, ist eine Fälschung, die

die ungeheuere Tragödie zu einem ab-
geschmackten Puppenspiel desorgani-
siert. Der Chor vertritt den eigentlichen
inneren Vorgang, dessen äußerliche illu-
sionistisch traumhafte Darstellung die
Handlung bildet. »Die Bühne zeigt«, sagt
Wagner, »die Thaten der Musik«. Eben-
sogut könnte man in einem Rembrandt
die Beleuchtung weglassen. Diese Art von
Bearbeitung ist nichts anderes, als der
ewige Kampf des Rationalisten gegen
den Geistmenschen, der instinctive Hass
des Journalisten gegen den Künstler. Es
ist höchst bezeichnend, dass man diese
»Aufführung« einige Jahrzehnte nach
Wagner wagen kann; man sieht daraus,
wieviel Publicum und Kritik von diesem
verstanden haben. Zwischen Aischylos und
Wagner besteht überraschende Ähnlichkeit,
sowohl inhaltlich als formell. Beide sind
Esoteriker, denen die Bühne zum Werk-
zeuge ihrer Offenbarungen wird. Auch
Aischylos, der bekanntlich ein Eingeweihter
der Eleusinien war, behandelt mit Vorliebe,
und auch in der Orestie, das Erlösungs-
problem. Orest ist der Sohn der mütter-
lichen Materie, der, seines verlorenen
geistigen Ursprunges eingedenk, durch den
Muttermord, d. h. die Überwindung der
sinnlichen Natur, emporsteigt und zu
Apollon gelangt. Apollon — darauf deutet
die gesammte delphische Institution — ist

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 439, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0439.html)