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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 438

Text

VICK: WAS AM WEGE LIEGT.

Freiheit, in die That des Bösen ver-
wandelt. Jeder, der sich auf dem Wege
wähnt zum besseren Leben, ist ihm
innerlich verwandt; doch auch jene, die
noch keinen Weg wissen, sind es. Alle,
die in der Gasse sich lieben, sind der-
selben Umwandlung und Qual verfallen.
Die Schönheit, wenn sie als Liebe her-
niedersteigt, wirkt in der Gasse keine
Schönheit. Die Ehe wird Fessel; Kinder
bringen Sorgen; die Arbeit häuft Krank-
heiten. Alle Genien der Gasse legen sich
auf die Seele des Mannes und machen ihn
zum Hasser des Weibes. Überall in der
Gasse, in jeder Familie schließen die
Qualen miteinander einen Ring. Mit-
einander kräftigen sie sich gegen den
Menschen. Sie zerstören seine seelische
und geistige Harmonie und errichten ein
seelisches Fabelwesen, welches abseits vom
Lebenswege sich in sich selber windet und
seine Erlösung nur noch im Tode zu
finden hofft.

Doch auch in die Gasse scheint die
Sonne. Auch über sie spannt sich der
weite Himmel, der allen Menschen der
gleiche ist. Auch hier liegt im Winter
der Schnee und im Sommer die Glut
auf den Dächern. Vor den Fenstern
blühen in Blumentöpfen hie und da grüne
Gewächse. Junge Mütter sieht man, die
ihr Erstgebornes stolz in den Armen tragen.
Buben und Mädchen tragen oftmals gol-
denes, lockiges Haar. Alte Mütter gibt
es, deren Augen in reinem, geläutertem
Feuer strahlen, und auch ein Lachen,
das wie auf Perlen hingleitet, ist der Gasse
nicht fremd. Wenn das kleine Mädchen
dort unten am Steigrand auf dem Schemel
sitzt und eintönig mit den Füßen über
der Pfütze baumelt, dann wenden sich
seine Gedanken wohl auf jene Dinge, die
dem Leben der Gasse Farbe geben und
auf das Wunderschöne. Denn sind es nicht
Kinderaugen, die das entdecken, was
heimlich und traut ist? Sicher erspähten
sie schon eine stille Ecke, wo es sich
aufmerksam auf irgendetwas lauschen
lässt, sei es ein Klopfen in der Wand,
wenn der Holzkäfer bohrt, sei es, dass
die Regentropfen herniederklatschen gegen
die Fenster und auf die Straße. Im

Winter, wenn die weißen Schneeflocken
herniederwirbeln, wie viele kleine, sinnende
Gesichter kann man hinter gefrorenen
Fensterscheiben andächtig schauen sehen:
eine Schneeflocke — noch eine Schnee-
flocke — wieder eine — und so fort —
abwärts, abwärts.

Was weiß der Gebildete, der in seiner
Vollkraft auf der Straße des Lebens dahin-
schreitet, von all diesen Dingen? Er
wohnt nicht in der Gasse und kennt sie
nicht. Ist er schon jemals vor einer Pfütze
gestanden und hat den Sonnenstrahl be-
schaut, der aus ihr sich wiederspiegelt?
Ist er jemals am Abend eines Lohntages
in der Wohnung eines Armen gewesen,
um zu sehen, wie Mann und Frau sitzen
und Rechnung halten über Einnahmen
und Ausgaben, kommende und vergangene?
Kennt er die Nachtwachen jenes Weibes,
welches den Lebensunterhalt für sich und
ihr Kind mit Hemdennähen erringt? Doch
das alles ist noch nichts. Es ist Samstag
Abend. Durch die Gasse hallt Geschrei.
Männer zanken. In den Schanklokalen
wüthen Leidenschaften und Leben der Gasse.
Aus jener Wohnung dringt der Angstruf
von Kindern, denen der Vater die Mutter
schlägt. Wer von all Denen, die des Lebens
Straße in ihrer Vollkraft dahinschreiten,
weiß den Wert auch nur einer Lebens-
regung dieser Menschen richtig einzu-
schätzen?

Aber frage sich jeder, der seine Straße
selbstbewusst wandert, wie viel von allem,
was ihm begegnete, er ungelöst ließ. Wer
die Gasse kennt, wer das gesehen hat,
was abseits am Wege liegen blieb —
ungelöste Dinge, die jene sicher Dahin-
schreitenden auf ihrem Wege liegen ließen,
Dinge, die sie störten, die sie nicht zu
bewältigen wussten — der weiß den Ur-
sprung und die Größe jener Macht, die
über den Menschen der Gasse waltet und
ihre Seelen verzerrt; auch wüsste er sie
mit einem Namen zu benennen.

Das Hässliche wohnt dicht bei dem
Schönen, am allermeisten in der Gasse.
Es ringt sich am sichersten dort empor,
wo eben etwas recht Schönes geboren
wurde. Denn nur, wo das Schöne ist,
kann das Hässliche sein. Das Hässliche,
bestehend und erzeugt im Widerspruch
zu dem Schönen, ringt mit ihm und sucht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 438, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0438.html)