Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 427

Das Licht und die Inscenierung (Appia, Adolphe)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 427

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APPIA: DAS LICHT UND DIE INSCENIERUNG.

änderungen unterliegen. Die ganz beweg-
lichen Apparate werden das gestaltende
Licht zu schaffen haben, und der Vervoll-
kommnung ihres Mechanismus wird die
größte Sorgfalt zugewendet werden müssen.
Den mehr oder weniger stabilen, der
Helligkeits-Erzeugung dienenden Installa-
tionen werden Lichtschirme von wechselnder
Durchlässigkeit beigegeben werden; ihr
Zweck wird sein, je nach Bedarf die allzu-
scharfe Wirkung des Lichtes auf die jenen
Apparaten zunächst liegenden Gegenstände
und den sich ihnen nähernden Darsteller
zu mildern. Ein großer Theil der beweg-
lichen Apparate wird das Licht in der
verschiedenartigsten Weise zu brechen und
abzulenken haben; diese Apparate sind,
wie wir schon bei Besprechung der »Auf-
stellung« gesehen haben, von größter
Wichtigkeit für die ausdrucksvolle Gesammt-
wirkung des scenischen Bildes; sie sind
so innig mit derselben verknüpft, dass
ihre Einrichtung sich selbstverständlicher-
weise zugleich mit der Decorations-Auf-
stellung und daher auch »ad hoc« voll-
zieht, während die elektrische Anlage im
allgemeinen, natürlich ein- für allemal, von
vornherein gemacht werden kann. — Was
die Transparent-Beleuchtung der gemalten
Leinwandflächen betrifft, so schlägt diese
ganz in das Gebiet der Malerei und hat
mit dem gestaltenden Licht nur insofern
zu thun, dass sie ihm freies Spiel gewährt,
denn sie erhellt nur die betreffende
Malerei, nicht aber das übrige Decorations-
material.

In welchem Maße die eine oder die
andere der beiden Kategorien von Be-
leuchtungsapparaten in Thätigkeit tritt, ist
eine reine Verhältnisfrage, und es ist nicht
nothwendig, dass die technische Ab-
grenzungslinie, die sie von einander
scheidet, unverrückbar sei. Das vertheilte
und das gestaltende Licht kann nur durch
den verschiedenen, sich gegenseitig er-
gänzenden Grad ihrer Intensität gleich-
zeitig nebeneinander bestehen. Das ver-
theilte Licht allein ist einfach die Möglich-
keit, zu sehen, und dies entspricht im Wort-
Tondrama dem »Zeichen«. Das gestaltende
Licht allein ist in der Nacht Mond, Fackel
od. dgl., oder eine übernatürliche Licht-
erscheinung. Der Unterschied des In-
tenstätsgrades zwischen den beiden Licht-

gattungen muss groß genug sein, um das
Vorhandensein der Schatten wahrnehmbar
zu machen; über diesem Minimum gibt
es aber eine unbegrenzte Vielgestaltigkeit
ihrer Zusammensetzung. Ist der Abstand
indes allzugroß, so kommt uns das ver-
theilte Licht nicht mehr zum Bewusst-
sein: die Beleuchtung wird eine aus-
schließlich gestaltende, und hiermit —
wie wir bei Besprechung des Saales sehen
werden — den Bedingungen unterworfen,
welche die mittlere Sehweite des Publi-
cums ihr stellt.

Um Schatten zu vermeiden, durch
welche die Kraft des gestaltenden Lichtes
getrübt würde, muss das vertheilte Licht
das gesammte scenische Material (den
Darsteller mit inbegriffen) von allen Seiten
erhellen. Wenn es uns die »Möglichkeit,
zu sehen«, auf der Bühne geschaffen,
und die Schatten sich genügend entgegen-
arbeiten, um sich gegenseitig aufzuheben,
dann kann erst das gestaltende Licht
seinen Einzug halten. Denn mit Ausnahme
derjenigen, unzweifelhaft sehr seltenen
Fälle, in denen eine oder die andere
Lichtgattung allein ihre Wirksamkeit zu
entfalten hat, versteht es sich wohl von
selbst, dass mit »der Möglichkeit, zu sehen«
begonnen werden muss. Die Intensität
dieser Helligkeit wird sich dann freilich
nach derjenigen des gestaltenden Lichtes
zu regeln haben.

Diese Grundunterscheidung in zweierlei
Lichtgattungen ist der einzige technische
Begriff des neuen Bühnenprincips, welcher
für die Beleuchtung von vornherein fest-
gestellt werden kann. Bei Betrachtung
der Malerei werden wir sehen, wie die
Farbe nun nicht mehr an die senkrechten
Leinwandflächen gebunden ist, sondern
frei in den Raum hinauszutreten und sich
dort zu verbreiten vermag; sie verbindet
sich so innig mit dem Lichte, dass es
schwer ist, beide von einander zu trennen.

Man wird vielleicht die Frage auf-
werfen, ob denn dieses Theilen des
Lichtes in gestaltendes und vertheiltes
Licht nicht ein Hinneigen zu jenem Rea-
lismus bedeute, welchen die vorhergehenden
Darstellungsfactoren doch systematisch zu
vernachlässigen hatten, und ob denn nicht
in diesem Falle die Einheitlichkeit des
scenischen Schauspieles vollständig zerstört

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 427, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0427.html)