Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 441

Maurice Maeterlinck: Drei mystische Spiele* (Schlaf, Johannes)

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Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 441

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BÜCHER.

hier gleichsam zu blutlebendiger Mensch-
lichkeit hinüberwollen. Der Aufbau der
Wirkung ist bewunderungswürdig voll-
endet und in sich geschlossen. Es kann
sozusagen kein Finger dazwischen. Ein
wenig ahnt sich auch schon der Maeter-
linck vor, der die letzten philosophisch-
ethischen Werke geschrieben hat. Aber
gar manches Raffinement, viel Geistreichig-
keit und vielleicht psychologische Haar-
spalterei auch hier. — So sehr wir Maeter-
linck auch achten und vielfach bewundern
müssen, ist es kein Schade, vielleicht ein
gesundes Anzeichen, dass wir uns in
Deutschland für ihn nicht besonders er-
wärmen können. — Zu erwähnen ist die
charaktervolle Ausstattung in ihrer präch-
tigen Einheit mit dem Text; der vor-
treffliche Zusammenklang von Text, Druck
und Illustration. (Illustrator: Müller-Schön-
feld.)

Der vergiftete Brunnen. Roman
in drei Büchern von Arthur
Ho-
litscher. Albert Langen, Paris, Leip-
zig, München, 1900. 428 Seiten.

»Der vergiftete Brunnen« soll wohl
ein Münchener Sittenroman sein. In
mancher Hinsicht hat er mich an M. G.
Conrads Cyklus »Was die Isar rauscht«
erinnert. Ja, mir ist, als wäre er Holitscher
gar vorbildlich gewesen. Im Wesentlichen
aber bleibt Holitscher hinter jener ersten
Schöpfung eines Münchener Sittenromanes
zurück. Denn mochten auch die künstleri-
schen Eigenschaften des Romanciers Conrad
in gar vieler Beziehung zu beanständen
sein, mochte sich Conrads Cyklus auch
weit eher als ein umfangreiches feuilletonisti-
sches Werk über Münchener Leben und
Sitten darstellen, denn als ein Sitten-
roman, wie wir neuerdings diesen Begriff
mit Zola zu fassen uns gewöhnt: Α und Ω
bleibt schließlich doch die Individualität. Es
mag Conrad nicht gelungen sein, der Zola
Münchens zu werden: immerhin war sein
Cyklus ein sehr beachtenswertes Document

seiner Persönlichkeit; und diese steht in
all ihren streitbaren, männlich-frischen und
poetischen Eigenschaften in der Entwick-
lung unserer neuesten deutschen Literatur
mit rüstigen Füßen auf einem soliden und
dauerhaften Postament. Nun, und immerhin
war doch in »Was die Isar rauscht« das
Münchener Leben recht vielseitig aus-
geholt und von einem sehr gesunden per-
sönlichen Standpunkt aus! — In dieser
und jener Hinsicht mag nun also Ho-
litscher meinetwegen der bessere Roman-
cier sein; doch ist das nachgerade eben noch
kein so besonders rühmenswertes Kunst-
stück. Es werden heute so viele lesbare
Romane geschrieben. Was Holitscher
fehlt, ist die Marke der Persönlichkeit.
Und dann schmeckt das Ganze eigentlich
hie und da doch wohl auch ziemlich be-
denklich nach Sensations- und Effect-
macherei. Im übrigen: manche, wenn
auch meist recht decadente, so doch ernst
zu nehmende Lebensanschauung und Weis-
heit; hie und da ein nennenswerter Ansatz
zu plastischer Charakteristik — die aller-
dings nie über die Abstractheit des Typus,
und zwar bereits ein wenig verbrauchter
Typen, hinausgeht — der paar recht ca-
puten Menschen, die hier Münchener
Sitten repräsentieren müssen. Manche an-
schauliche, interessante und geschickte
Milieu-Schilderung, weniger der Natur zwar,
als des Zimmer-, resp. Salonmilieus. Leider
haben die Personen die üble Gewohnheit,
ganze Seiten und sozusagen wie die
Feuilletons zu reden. Und leider ver-
lieren sich Handlung und Situation oft zu
sehr ins Unwahrscheinliche und Phan-
tastisch-Symbolistische, was wieder, falls
Holitscher die besondere Prätension auf-
stellen sollte, einen Sittenroman geschrieben
zu haben, die Eigenschaft eines solchen
beeinträchtigt. Alles in allem das Werk
eines geschickten, in manchen Lebens-
verhältnissen tüchtig bewanderten Schrift-
stellers; hie und da auch ganz interessant,
ja »spannend« zu lesen, aber ohne einen
besonderen literarischen Wert.


Herausgeber: Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur: Anton Lindner.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 4, Nr. 24, S. 441, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-04-24_n0441.html)