Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 46
Text
Thräne oder eine blosse Bewegung der Augenlider das Glück
Aller, die sie umgeben, zu trüben, dass ich niemals erfahren
werde, ob sie gleich mir diesen unseligen Kuss gesehen
hat. Aber ich weiss, was sie leiden konnte. Ich werde dich
nichts fragen, was du mir nicht zu bekennen vermagst, doch
ich möchte wissen, ob du irgend einen geheimen Plan hattest,
als du Palomides unter dem Fenster küsstest, an welchem
ihr uns sehen musstet. Antworte mir ohne Furcht, du weisst
im Voraus, dass ich Alles verzeihe.
Alladine.
Ich habe ihn nicht geküsst.
Ablamore.
Wie? Du hast Palomides nicht geküsst, und Palomides
hat dich nicht geküsst?
Alladine.
Nein.
Ablamore.
Ah! Höre: ich war gekommen, um dir Alles zu ver-
zeihen Ich glaubte, dass du gehandelt hattest, wie wir
fast Alle handeln, ohne dass etwas von unserer Seele daran
theilnimmt Aber jetzt will ich Alles wissen, was vorgefallen
ist Du liebst Palomides, und du hast ihn vor meinen Augen
geküsst.
Aladine.
Nein.
Ablamore.
Geh’ nicht fort. Ich bin nur ein Greis. Entfliehe nicht
Alladine.
Ich entfliehe nicht.
Ablamore.
Ah! Ah! Du fliehst nicht, weil du meine alten Hände für
harmlos hältst! Aber sie haben noch die Kraft, ein Geheimniss
Allen zum Trotz zu entreissen (er ergreift ihre Arme) und sie könnten
gegen Alle kämpfen, die du bevorzugst (Er kehrt ihr die
Arme auf den Nacken.) Ah! Du sprichst nicht! Der Augen-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 46, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0046.html)