Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 48
Text
zum erstenmale einem menschlichen Wesen. Mir war, als hätte
ich bis dahin in einer verschlossenen Kammer gelebt, die Ihr
geöffnet habt; und ich wusste mit einemmale, was die Seele
der anderen Menschen sein muss, und was die meine hätte
werden können Seitdem lernte ich Euch noch besser
kennen. Ich sah Euch handeln, und dann belehrten mich auch
Andere über Euer ganzes Wesen.
Es gab Abende, an denen ich Euch schweigend verliess
und ging, um in einem Winkel des Palastes vor Bewunderung
zu weinen, weil Ihr unschuldsvoll die Augen aufgeschlagen,
eine kleine unbewusste Geberde gemacht oder ohne sicht-
bare Ursache gelächelt hattet, gerade in dem Augenblicke, da
alle Seelen rings um Euch danach verlangten und befriedigt
werden wollten. Nur Ihr kennt diese Augenblicke, weil Ihr
die Seele von Allem zu sein scheint, und ich glaube nicht,
dass diejenigen, welche Euch nicht genaht, wissen können,
was das wahrhafte Leben ist. Heute komme ich, Euch all
das zu sagen, weil ich gefühlt habe, dass ich niemals der
sein werde, welcher zu werden ich gehofft hatte Es war ein
Zufall — oder vielleicht war ich es selbst, denn man weiss nie,
ob man selbst thätig war oder ob ein Zufall uns begegnete
— es war ein Zufall, der mir in dem Augenblick die Augen
öffnete, als wir uns eben unglücklich machen wollten; und
ich erkannte, dass es ein Etwas geben müsse, unbegreiflicher
als die Schönheit der schönsten Seele oder des schönsten
Angesichtes, und auch mächtiger, da ich ihm doch gehorchen
muss Ich weiss nicht, ob Ihr mich verstanden habt. Wenn
Ihr mich versteht, habt Mitleid mit mir Ich habe mir
Alles gesagt, was sich darüber sagen lässt Ich weiss, was
ich verliere, denn ich weiss, dass ihre Seele neben der Euren
die Seele eines Kindes ist, eines armen Kindes ohne Kraft,
und dennoch kann ich ihr nicht widerstehen
Astolaine.
Weint nicht Auch ich weiss, dass man nicht thut,
was man thun möchte und ich wusste, dass Ihr kommen
werdet Es muss wohl Gesetze geben, mächtiger als die
unserer Seelen, von denen wir immer sprechen (küsst ihn
heftig). — Aber ich liebe dich nur noch mehr, mein armer
Palomides
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 48, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0048.html)