Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 51
Text
der schönen und bequemen Möbel, trotz der theueren und unvermeid-
lichen Umgebung, wo Alles so wohlanständig und langweilig war.
Das etwas sonnengebräunte, unschöne Gesicht traurig gebeugt,
schlich er langsam in die Tiefe des Gartens. Dort betrachtete er, die
Brust an den Zaun gelehnt, das Krabbeln zweier barfüssiger Knaben,
die im Hofe spielten. Sie waren gleichaltrig mit Serjoscha, doch durfte
er mit ihnen nicht spielen: das war — unanständig und verboten. Es
that ihm leid, dass er nicht zu den zwei lustigen Knaben gehen konnte.
Neugierig sah er, wie sie beim Spiel einander einholten. Das Laufen war
für Serjoscha verbotenes Vergnügen; sein Herz begann davon stärker
zu schlagen, und er musste oft stehen bleiben, um Athem zu schöpfen.
Doch jetzt, wo Andere liefen, blickte er ihnen gierig nach, lachte vor
Freude, und sein Herz schlug zuweilen so heftig, als wenn er selbst mit
den Knaben umhertollen würde. Uebrigens war er bestrebt, nicht zu
lachen: er hätte sich, wenn man gesehen hätte, dass er das Spiel der
Strassenbuben mit solchem Interesse beobachte, geschämt.
Die Knaben unterbrachen ihr Spiel, und mitten im Hofe stehend,
beriethen sie sich laut und schreiend, als ob sie zankten. Serjoscha be-
obachtete sie noch immer, es kam ihm sonderbar vor, dass sie so zer-
lumpt und barfuss waren, und dass sie sich trotzdem wohl fühlten.
Sie begannen wiederum herumzulaufen, doch Serjoschas Gedanken
zerstoben
Das Schreien im Hof liess ihn zusammenzucken. Die Köchin
Nastasja schrie wüthend und prügelte dabei einen der spielenden
Knaben, der ihr Sohn war und aus Leibeskräften heulte. Serjoscha
kreischte vor Schreck auf, er fühlte plötzlich den fremden Schmerz
an sich und lief davon.
Abends kehrte weder Mama noch Papa nach Hause zurück.
Serjoscha blieb fast die ganze Zeit allein, weil sein Hofmeister, ein
flachshaariger, gutmüthig-fauler Student, heute dem aufgeputzten
Stubenmädchen Barbara den Hof machte; Serjoscha liebte sie nicht,
weil sie der gnädigen Frau so gefällig in die Augen blickte und ihr
die Hände küsste.
Als es ganz finster wurde, ging Serjoscha leise aus dem Hause
und verkroch sich in den entferntesten Theil des Gartens. Dort legte
er sich auf eine Bank, legte die Arme unter den Kopf und blickte
zum Himmel empor. Der Himmel entblösste sich und liess die ver-
steckten Sterne frei wie die dunkelblaue Weite dahinter.
Die Feuchtigkeit und die Kühle des Juliabends ergriffen den
Knaben. Wenn man ihn hier im Garten erblicken würde, hätte man
ihn ins Zimmer geschickt. Er wusste selbst, dass hier zu liegen für
ihn schädlich sei, hier unter den feuchten Zweigen des Flieders, da er ja
so verzärtelt und nervös war, doch blieb er absichtlich und erinnerte sich
schmerzlich, wie geringschätzig ihn die Mama behandelt hatte und wie die
Gäste lächelten, als sie sein kleines Figürchen sahen. Er erinnerte sich
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 51, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0051.html)