Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 52
Text
auch, wie einmal Tante Katja ihn Miniature genannt, und auch dieses
Wort ärgerte ihn jetzt.
»Können denn solche Miniatures vorkommen?« dachte er böse.
»Und warum grinsen die Aelteren immer und sind bestrebt, etwas
Komisches und Lustiges zu sagen? Vor Freude lachen — das darf
man, doch sie lachen vor Bosheit und vor Neid, weil ich jung bin
und sie bald sterben werden.«
Er dachte, wäre er stark, so würde er die Tante Katja zwingen,
vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn um Verzeihung zu bitten.
Doch Niemand sollte dabei sein, keiner lachen. Und beim Ohr würde
er Tante Katja fassen und ihr sagen:
»Schau’ zu, das nächstemal geht’s dir noch schlimmer.«
Und sie wäre fortgegangen, still und ohne zu lachen. Und was
würde er mit jenen langbeinigen Herren thun? Nichts, nur sie fort-
jagen, sonst nichts. Wenn nur sie und die Erinnerung an ihr dummes
Lachen ihn nicht störten, die Sterne zu betrachten, die für die Herren
belanglos waren wie Serjoscha!
Die Sterne, weit und friedlich, blickten ihm gerade in die Augen.
Sie flimmerten und schienen schüchtern zu sein. Serjoscha war auch
schüchtern, doch jetzt empfand er, dass er und die Sterne sich wohl-
fühlten. Er erinnerte sich, dass der Student ihm einst davon sprach,
ein jeder Stern sei wie die Sonne, ein jeder habe seine Erde. Doch
konnte er nicht glauben, dass es dort so sei wie hier. Er glaubte,
dort sei es besser. Es that ihm leid, dass man dorthin nicht ge-
langen konnte — dass die Erde so gross war und anzog. Wenn sie
nicht anziehen würde, könnte man hinfliehen zu den Sternen und er-
fahren, wie es dort zuging. Ob dort Engel mit weissen Fittichen und
goldenen Hemden wohnen oder nur Menschen
Warum blicken die Sterne so aufmerksam auf die Erde? Leben
sie, denken sie vielleicht auch?
Serjoscha blickte lange zu den Sternen und vergass seinen Aerger,
seine Bosheit. Milde und klar wurde seine Seele. Sein Gesicht mit den
vollen, aber blassen Lippen ward unbeweglich-ruhig.
Immer klarer und liebevoller leuchteten die Sterne über Ser-
joscha. Sie verdunkelten einander nicht — ihr Licht war ohne Neid,
ohne Lachen. Mit jedem Augenblick kamen sie dem Knaben
näher. Freudig und leicht ward es ihm, und es schien ihm, als
wenn er auf der Bank, in der Luft sich wiegend, schwimmen würde.
Die Sterne waren bei ihm. Alles ringsumher schwieg voll Erwartung,
und die Nacht wurde finsterer, geheimnissvoller. Er ward eins
mit den Sternen und vergass darob sich selbst und die Gefühle seines
Körpers.
Plötzlich kamen von irgendwo kreischende Harmonikalaute, die
Serjoscha aus seiner Selbstvergessenheit erweckten. Serjoscha erstaunte über
etwas — vielleicht über diese vergangene Selbstvergessenheit — und
dann ärgerte ihn die Harmonika, deren unangenehme Laute vor dem
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 52, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0052.html)