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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 53

Text

ZU DEN STERNEN. 53

Knaben herumsprangen und sich ausbreiteten. Diese Laute, frech,
knarrend, zudringlich, erinnerten ihn an Alles, was bei Tage vorging
— an die Gäste, den Studenten, die Barbara, an den Knaben, den die
Mutter schlug und der dabei so unbarmherzig schrie — und diese letzte
Erinnerung liess ihn plötzlich erschauern, dass sein Herz qualvoll
pochte. Die Sehnsucht ergriff ihn und der grosse Wunsch, nicht hier
auf der Erde zu sein.

»Wie, wenn mich die Erde nicht anzieht!« dachte er plötzlich.
»Vielleicht kann ich mich erheben und davonfliegen, wenn ich will?
Mich ziehen die Sterne an und nicht die Erde.«

Und da schien es ihm, dass die Sterne leise erklangen, und
die Erde unter ihm begann sich vorsichtig zu neigen, und der
Gartenzaun kroch leise an seinen Füssen vorbei, die Bank unter
ihm bewegte sich langsam und hob seinen Kopf und neigte seine
Füsse. Er bekam Furcht. Einen schwachen und grellen Schrei
stiess er aus, sprang von der Bank hinweg und stürzte ins Haus. Seine
Füsse waren schwer, sein Herz schlug schmerzlich — und es schien
Serjoscha, dass unter ihm mit dumpfem Geräusche die Erde wanke.

Zitternd kam er ins Zimmer. Niemand bemerkte ihn. In den leeren
Räumen war wie gewöhnlich Licht, und in der Nähe waren Menschen-
stimmen hörbar.

»Warum bin ich erschrocken?« überlegte Serjoscha, »ich bin ja
gelegen, weshalb kam es mir vor, dass der Zaun unter meinen Füssen
sei, und dass die Erde sich drehe?«

Es ergriff ihn ein Verlangen, Leute zu sehen, nicht allein zu
sein. Als Serjoscha aber das Zimmer betrat, aus welchem er die fröhliche
Stimme seines Hofmeisters hörte, bemerkte er, dass er den Studenten in
einer Plauderei mit Warja gestört habe. Der Student wandte sich mit
einem gezwungenen und verschämten Gesicht zu dem Knaben. Seine
Arme waren sonderbar auseinander gespreizt, weil sie eben auf Warjas
Schultern gelegen. Warja, die beim Tische stand, als wollte sie dort
etwas in Ordnung bringen, lächelte sinnlich und blickte Serjoscha,
der ihrer Ansicht nach nichts davon verstand, herablassend an. Aber
Serjoscha wusste ganz gut, dass der Student an Warja Wohlgefallen
fand und deshalb mit ihr spasste, dass er sie aber niemals heiraten
werde. Jetzt wurde es ihm plötzlich unangenehm, die Beiden zu sehen.
Ihm schien, dass sie keine guten Gesichter hätten, der blatternarbige
Student und das schwarzhaarige Stubenmädchen.

Er blickte zur Seite auf die Lampe Da kamen ihm die
Sterne in den Sinn, und es wurde ihm schwer, auf das rothe Licht
der Lampe zu blicken. Er ging zum Fenster — irdische Feuer, neblig
und rauchig, schauten von überall auf ihn. Nicht weit, in einer Villa,
brannten Lampions — wahrscheinlich aus Anlass einer Familienfeier.
Bange ward’s Serjoscha zu Muthe von diesen schreienden und grellen
Flammen.

»Was ist das denn,« sprach er klagend, »wann kommt Mama endlich?«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 53, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0053.html)