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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 54

Text

54 SSOLOGUB.

»Ihre Mama kommt spät,« antwortete Barbara mit süsser Stimme,
»Sie werden die Mama morgen Früh sehen, Serjoschenka, jetzt sollten
Sie aber schlafen gehen.«

Serjoscha blickte Barbara mit bösen, kalten Augen an, die
auf seinem gelb-blassen Gesicht sonderbar flimmerten. Seine Lippen
verzog ein böses Lächeln, seine Wangen wurden davon scheinbar ge-
schwollen. Der Hass quälte sein Herz, wie der Hunger quält.

»Ich werde schlafen gehen,« sagte er mit leicht vibrirender
Stimme, »und du wirst dich mit ihm küssen!«

Barbara erröthete.

»Aber, Serjoschenka, wie, schämen Sie sich nicht,« sagte sie
verwirrt, »das werde ich der Mama sagen.«

»Ich werde es selbst sagen,« antwortete Serjoscha und wollte
noch etwas dazusetzen, doch konnte er’s nicht, weil das Gefühl des
Hasses und der Sehnsucht sein Herz und seinen Hals zu sehr bedrückten.

»Schauen Sie, dass Sie verschwinden, Serjoscha,« meinte der
Student, indem er bestrebt war, seine Verwirrung durch den herri-
schen Ton und ein verächtliches Lächeln zu maskiren, »gehen Sie
schlafen.«

Serjoscha blickte ihn finster an und ging schweigend auf sein
Zimmer.

Beim Entkleiden war er bemüht, den Studenten und die Warja
und alle Menschen zu vergessen — er wollte sanft und liebevoll von
den Sternen träumen. Er ging zum Fenster und blickte durch das
Rouleau auf den Himmel. Er funkelte und glitzerte. Wie Diamanten
waren die Sterne, und kalt schien ihr Glanz — es kam von ihnen wie
ein kühler Hauch.

Gebückt und mit der Schulter an das Fensterbrett gelehnt, stand
Serjoscha da, dachte traurig, dass man die Sterne absolut nicht fragen
kann, wie es dort zugehe — und seine kalten Augen flimmerten in
diesem blassen Gesicht. Wie er aber so dastand und zu den Sternen
hinaufblickte, legte sein Hass sich allmälig, und sein Herz zuckte
nicht mehr.

In der Nacht träumte Serjoscha von einer geheimnissvollen und
wunderbaren Welt, von der Welt auf den klaren Sternen. Auf den
Bäumen des Waldes sassen kluge Vögel und sahen auf Serjoscha, und
unter den Baumzweigen schritten langsam kluge Thiere, die es auf der
Erde nicht gab. Es erfüllte Serjoscha mit Freude, mit ihnen und mit
den Menschen jener Welt zusammen zu sein, die alle klar waren und
mit so grossen Augen blickten und nicht lachten.

II.

Der Tag war heiss, und Serjoscha war traurig. Er liebte die
Hitze nicht, liebte nicht die grelle Sonnenbeleuchtung, bei Tage hatte
er vor etwas Angst. Diese ganze Hitze und das Licht lasteten schwer
auf seiner Brust, in der zuweilen, irgendwo beim Herzen, eine quälende
Pein und ein Zittern entstand.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 54, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0054.html)